Im letzten Artikel wurde darauf hingewiesen, worum es in diesem Artikel geht: es geht um den Gedanken, beziehungsweise um dasjenige, das den Begriffen des Menschen etwas gibt, das die Begriffe an andere Begriffe anknüpfen, und so an einer Idee teilhaben lassen kann. Was dem „Begriff“ eine Lebendigkeit gibt, durch die sich der Begriff mit anderen Begriffen verbinden kann, das ist der Gedanke.
Der Begriff der Idee
Das Denken ist zu allerlei fähig, aber unabhängig davon was durch das Denken gemacht wird, entstehen immer Gedanken und Vorstellungen daraus. Der Gedanke ensteht aus der Denktätigkeit; wir denken, und so entstehen Gedanken. Wir unterscheiden den menschlichen Gedanken vom kosmischen Gedanken, wir nennen ersteren den bewussten, und zweiteren den unterbewussten. Dafür müssen wir aber noch eine kleine Unterscheidung machen, nämlich zwischen dem Unterbewussten und dem Unbewussten. Das Unbewusste ist die Wirkung durch den Menschen, die ohne die Aufmerksamkeit des Menschen abläuft, z.B. die Gewohnheit, das Trauma, der Instinkt, die Sozialisierung und vieles andere; Dinge also, die automatisch oder passiv geschehen. Das Unterbewusste ist dagegen eine Tätigkeit des Geistes im Menschen, die vom gleichen Menschen aus irgendwelchen Gründen nicht wahrgenommen wird.
Der kosmische Gedanke ist der „unterbewusste“, weil wir Menschen ihn für gewöhnlich nicht bewusst wahrnehmen können. Für sich gesehen hat der kosmische Gedanke zwar unendlich mehr Tiefe und Bewusstheit als der menschliche, aber wir gehen vom Menschen aus, nicht von irgendwas anderem. Hätte der kosmische Gedanke weder für sich noch für uns ein Bewusstsein, so wäre er nicht der unterbewusste, sondern der unbewusste, automatisierte kosmische Gedanke. Das Unbewusste ist das nicht vorhandenes Bewusstsein, das Unterbewusste ist ein verstecktes Bewusstsein; dieser feine Unterschied wird von unserer Sprache gemacht. Der kosmische Gedanke arbeitet an Ideen, und der menschliche Gedanke findet die Ideen durch sein Denken. Es gibt also bewusste wie unterbewusste Gedanken, und beide Arten wirken in ihrer jeweilgen Weise auf den Menschen.
Ideen entstehen nicht durch den Menschen, sondern sie sind immer da, und sie werden wie mathematische Formeln von uns über unsere Gedanken gefunden. Je feinfühliger der Mensch mit Begriffen umgehen kann, und je reicher sein Wortschatz, seine Vorstellungskraft und seine Begriffswelt ist, desto eher findet er zum Gedanken, der zu der wahrhaften Idee führen sollte. In anderen Worten sind Ideen immer objektiv, nie subjektiv, und das Denken ist die geistige Arbeit des Menschen, zu diesem Objektiven zu gelangen.
Der Weg zur Idee
Im letzten Artikel, zum Thema der Ratio (des Verstandes), wurde die Sünde gegenüber der Moralität als ein ausgesprochen anschaulicher Gegensatz aufgeführt; ein Gegensatz, dessen Pole die Ratio erstmals erkannte, wodurch die Ratio die Pole mit der Zeit wirklich werden liess. Das Beispiel der Moralität und der Sünde weiter gebrauchend: die Moralität ist hierbei ein Pluspol, und die Sünde ein Minuspol, und durch die Ratio wurde etwas zwischen die beiden Pole gedrückt, das bewirkt, dass die beiden getrennt wurden. Durch das Entstehen der Ratio musste der Mensch darüber lernen, was sündhaft ist, damit er die Sünde unter Kontrolle kriegen konnte – wir nennen das den Sündenfall (die Entstehung der Sünde).
Einem Tier ist es keine Sünde, wenn es einem anderen Tier Schmerzen zufügt, denn das Tier kann nichts anderes sehen, als sowohl sich wie auch sein Opfer als „der Natur angehörig“. Respektive „sieht“ die Natur das eine wie das andere Tier als jeweils ein Teil von sich. Das Tier ist „in Union“ mit der Natur. Ja, es hat überhaupt keinen Begriff von der Natur, denn es erlebt die Natur als es selbst. Das Tier hat an sich überhaupt keine Begriffe, weil es sich an keinem Punkt als etwas vollständig Separates empfinden kann. Das Tier fühlt sich ununterbrochen verbunden mit der Welt und allem Natürlichen in ihr. Wie soll es Begriffe finden, wenn es nichts voneinander trennen kann?
Der Begriff kommt erst mit dem Ich, und das Ich kommt erst mit der Trennung des Ich vom Nicht-Ich, und diese Trennung geschieht mit der Ratio, der Vernunft, das heisst: mit der Fähigkeit, weltfremd sein zu können. Die Ratio ermöglicht es uns, Begriffe zu haben. Und die Begriffe ermöglichen uns dann stromabwärts unermesslich viele andere Dinge.
Dem Tier entsteht in seinen Taten keine Schuld, weil ihm „Zufügendes“ und „Erleidendes“ von ein und demselben sind. Wie die rechte Hand die den linken Arm kneift, nur ein anderer Teil am gleichen Körper ist, so sind die beiden Arme dennoch Teil des gleichen Körpers. Die rechte Hand spürt keinen Schmerz, wenn sie den linken Arm kneift, aber der Mensch, der gleichzeitig Besitzer der kneifenden und gekneiften Gliedmassen ist, der verspürt alle Schmerzen seines Körpers.
Der Mensch ist getrennt vom anderen Menschen und von der Umwelt – der Mensch hat die Fähigkeit „Ich“ sagen zu können, und es auch zu meinen, und darin jeden anderen Menschen auszuschliessen, und so „kneift“ der Mensch nicht sich selber, wenn er jemandem schadet, sondern er kneift ein Wesen, dessen Schmerz er zwar nicht selber fühlt, den er sich aber durchaus vorstellen kann. So fügt er mit dem Zufügen von Schmerzen einem anderen einen Schmerz zu, und hier ist nicht ein natürliches Gleichgewicht das ununterbrochen vorhanden ist, wie es unter Tieren, oder unter Gliedmassen eines einzelnen Körpers der Fall ist, sondern es entsteht etwas im einen Moment (Schuld), das nach einem Ausgleich in einem anderen Moment (Sühne) verlangt. Der Mensch ist seither vom Begriff an sich in gewissem Masse gefangen, und es gibt keine Möglichkeit, dem Begriff der ihn beschäftigt, wie etwa dem Begriff der Sünde beim Moralisten oder beim sündenden Menschen, auszuweichen. Denn selbst wenn der Begriff verneint wird – was kann im Verneinen eines Begriffes, wie etwa dem der Sünde, anderes getan werden, als in diesem Falle sündhaft zu leben? Damit lässt sich der Mensch selbst in der Verneinung nur weiter von diesem Begriff bestimmen. Begriffe schaffen dem Menschen Räume, aus denen er nicht so leicht herauskommt, wenn er einmal drinnen ist.
Es finden sich immerzu bestimmte Begriffe, die einem Menschen eine Gegenüberstellung mit sich selber befehlen, das heisst, dass der Mensch sich immer in gewisser Weise mit seinem eigenen Wesen konfrontieren muss. Das ist die Konsequenz daraus, dass der Mensch ein Einzelner geworden ist, nachdem er sich den Begriff aneignete.
Die Idee des Einzelnen
So hat der Mensch nun ein Ich, und er hat die Ratio, und er kann Unterschiede so intensiv wahrnehmen, dass er die Unterschiede mit Worten benennen kann, und den Teilen der Unterschiede Namen geben kann, und er kann sich aus diesen Worten und Namen Begriffe bilden. Und mit den Begriffen kann er so denken, dass er Ideen wahrnehmen kann.
So kommen wir langsam zur Idee; das gab dem Menschen aber noch nicht seinen eigenen, persönlichen Zugang zur Idee, sondern er fand die Idee anfangs nur gemeinsam mit anderen Menschen. Denn der Mensch wurde nicht augenblicklich zum Einzelnen, nur weil in ihm der Begriff entstand, und weil er ein Ich entwickelte. Der Mensch war zwar nicht mehr eins mit der Natur, aber er war noch immer verbunden mit der Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde. Er empfand und wollte – nicht als erstes für sich, sondern zuerst für und mit seinem Stamm, denn der Stamm schien ihm mehr ein Ich (ein Gruppen-Ich) zu haben, als er selber ein Ich bei sich spürte, und die Ideen die sich in den Stämmen und Volksgruppen fanden, das waren Ideen, die gemeinsam erarbeitet wurden. Der Einzelne hatte kein vollständiges Verstehen der Ideen und Regeln, die den Stamm führten, und selbst der Stammesführer war nicht imstande zu formulieren, was genau seinen Stamm ausmacht, und nach welchen Vorstellungen die Gruppe genau lebte. Aber gemeinsam fügten sich die Bruchstücke der Einzelnen zusammen, und das gab den Gemeinschaften erste Ideen.
Durch die Gemeinschaft kamen die Teilideen zusammen, und wenn die Menschen beisammen waren, wenn sie etwa nach getaner Arbeit beisammen sassen, da sassen sie in all den Ideen drinnen, die sie damals nur gemeinsam erreichen konnten. Dieses (heute nicht mehr zeitgemässe) Versinken zurück in die Gewalt der Natur oder in höhere Wahrheiten, ob alleine oder gemeinsam, ob mit hypnotischer Musik oder ohne, ob mit Räucher- oder Kaumittel, oder ohne, das Zurückversinken in die Union mit Höherem wird „Atavismus“ genannt. Der Atavismus ist für den Menschen heute nicht mehr zeitgemäss, weil der Mensch heute sein eigenes Wesen ausbilden sollte, aber der Atavismus war zeitgemäss, als der Mensch noch frisch von der Natur losgelöst war, aber noch nicht vollständig selbstständig denken konnte. Die uraltertümliche Menschengemeinschaft hatte ein Gefühl für das, was wir die kosmische oder unterbewusste Idee nennen, die die damaligen Menschen weit überstieg, die auch uns noch unendlich weit übersteigt, die ihnen aber eine Führung gab, sei das in moralischen Vorstellungen oder in ganz praktischen Dingen, wie dem Züchten oder Jagen von Tieren und dergleichen. Solche Versenkung ist eine Stufe zwischen dem natürlichen Instinkt des Tieres, und dem intellektuellen Ausbilden und Schulen der Gegenwart. Aus diesen kosmischen Ideen wurden sie dazu bewogen, nachts zu den Sternen zu schauen, und daraus zu lesen, was diese ihnen erzählten.
Hier kann wieder ein Vergleich mit dem Kind gebracht werden, wie es im Artikel um die Ratio getan wurde, denn beim Kind ist das Ich, wie beim Menschen des Uraltertums, noch nicht ausgebildet. Was eine Gruppe an Kindern heute tut, ist in Bezug auf die Bewusstheit dem ähnlich, das von der Menschengruppe vor langer Zeit getan wurde. Im gemeinsamen Spiel folgen Kinder bestimmten Regeln, aber das einzelne Kind kann nicht für alle anderen Kinder beschreiben, was genau die Regeln sind. Jedes Kind wird etwas anderes erzählen, wenn es nach den Spielregeln gefragt wird; denn kein Kind kommt an das Bewusstsein heran, das die Kinder als Gruppe gemeinsam erreichen. Wenn sie dann gemeinsam ins Spielen kommen, bilden sich die Regeln von sich aus – aus der Gruppe, und es kommt etwas zustande, das geteilt wird, im Sinne von: an dem alle teilhaben und mitwirken.
Mit der Entwicklung des Ich entwickelt sich die Fähigkeit des Einzelnen zur Idee. Und in einer fernen Zukunft wird das gemeinsame Teilhaben an einer Idee, wie einer Religion oder einer Landesgrenze, etwas sein, das dann der Vergangenheit angehört, und dann gemieden werden soll. So mancher Einzelne wird es in der fernen Zukunft einer – ihm dann fernen – damals berechtigten Vergangenheit zuschreiben, wie wir uns heute als einer Nationalität, Blutlinie, Ethnie oder sonstwas Gegebenem angehörend verstehen. Diese Arten des Gruppierens sind eine in der Gegenwart durchaus angemessene Realität, auch wenn wir das womöglich und mit Recht nicht etwas Schönes finden; eine Realität die wir häufig aber weit klarer beschreiben können, als unser eigenes Wesen. Gemessen am Menschen, der in der Gegenwart lebt, gemessen an der Fähigkeit des Gegenwartsmenschen, sich ein eigenes moralisches Licht zu zünden, wird es den Einzelnen noch durch viele Generationen angemessen sein, nicht alles alleine stemmen zu wollen, sondern, den natürlichen Verschiedenheiten nach, sich zu mancherlei Gruppen zu zählen, und von diesen Gruppen allerlei brauchbare Moralvorstellungen und dergleichen zu übernehmen. Der Mensch der Gegenwart nimmt notwendige Kräfte aus der Gemeinschaft, Kräfte, die ihm erlauben, sich in gründlicher Weise zu entwickeln. Solange die Verschiedenheiten unter den Gruppen nicht künstlich verstärkt werden, und sich der Mensch nicht aus der „Andersartigkeit des zu ihm Fremden“ definiert; und er auf der anderen Seite auch nicht versucht, alles gleich werden zu lassen, und überall versucht Grenzen zwischen den Menschen zu entfernen und Gruppen aufzulösen, und er damit nicht voreilig versucht, das Entfernen von Unterschieden zu erzwingen; solange also weder aus der Vergangenheit herausgegraben, noch aus der Zukunft vorgezogen wird, ist es noch für lange Zeit angemessen, nach allerlei gefundenen Zugehörigkeiten gemeinsamen Ideen zu folgen und in bestimmten gemeinschaftlichen Abhängigkeiten zu leben.