Das menschliche Wissen

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Wir schauen mit diesem Artikel nun einen sechsten Begriff an. In einer ersten Dreiergruppe untersuchten wir die drei Grundbegriffe des Geistigen, zuerst den Spirit (das Bewusstsein), dann das Pneuma (der Sinn), und dann die Monade (das Wesen). Diese Dreiergruppe behandelt das Geistige.

In einer zweiten Dreiergruppe gehen wir von der Ratio (der Verstand) über die Idee (der Gedanke) nun zum Mathema (das Wissen). Diese Dreiergruppe behandelt das Vernünftige.

Die erkennbare Ordnung ist die Information

Die Information, die wahrgenommen und verstanden wird, die an anderer Information angeknüpft werden kann, ist das Wissen; und der Prozess, durch den der Mensch sich das Wissen aneignet, das ist das Lernen. Die korrekte Information ist das wahre Wissen. Das Wissen, das für seinen Bereich gültig ist, und keine Widersprüche hat, weder in sich noch direkt um sich, kann Wahrheit genannt werden.

Das Mathema ist das Wissen (das exakte Wissen zur Welt, zum Weltlichen; wortwörtlich „das, was gelernt werden kann“), und die Mathematik ist das Lernen (die Technik zum Erreichen von jenem exaktem Wissen). So bilden sich uns in einfacher Weise die Begriffe zum Mathema.

Es sollte wohl noch etwas näher bestimmt werden, was mit dem Mathema erreicht werden kann, und was das Mathema ist, weil das Mathema besonders gerne exakt arbeitet.

Das Mathema ist ein exaktes, geisteswissenschaftliches Sprachinstrument, das erstens mittels der Bestimmung einheitlicher Grössenordnungen zur Erklärung und Aufschlüsselung naturwissenschaftlicher Phänomene gebraucht wird, das zweitens weiter zum Definieren, Abstrahieren und Ausbauen seiner eigenen, mathematischen Eigentümlichkeiten das einzig Brauchbare ist, und das schliesslich drittens seine (hauptsächliche) Anwendung im Bestimmen und Lösen technischer Probleme findet.

Das Mathema bestimmt Einheiten

Die Ratio gab dem Menschen ein Bewusstsein um den Unterschied von seinem Ich und der Welt. So lernte der Mensch Begriffe kennen, die ihm die Welt nun als etwas von ihm Verschiedenes zeigten. Einerseits entstand dadurch die Welt der Ideen – das ist die Welt der lebendigen Gedanken – die der Mensch damals noch gemeinsam mit seinen Mitmenschen nach und nach erkundete, andererseits bildete sich dem Menschen nun die Möglichkeit, gewisse, der Natur eigene Muster zu entnehmen. Während die von tiefer Weisheit durchtränkte „Welt der Idee“ von Dingen wie Moralität und Gemeinschaft sprach, sprach die „Welt des Mathema“ zuerst nur von den Gesetzmässigkeiten der Natur, etwa jenen der Sterne und der Jahreszeiten, später sprach sie von den Gesetzmässigkeiten der Kultur, etwa der Tragkraft eines Balkens, dem Radius eines Rades oder dem Wurfwinkel eines Geschosses.

Der Mensch lernte durch das Mathema die Welt in einer eigentümlichen Weise zu beschreiben. Er lernte das Viele exakt zu bestimmen, indem er zu zählen begann. Er lernte die vergangene Zeit eines Tages in einzelne Zeitabschnitte zu unterteilen, und so hat der Mensch die Zeiteinheit gefunden. So erkannte er, dass manche Tage länger, und andere kürzer waren, ohne dass die Sonne sich dabei jemals schneller oder langsamer über den Himmel drehte, und dass die kürzeren Tage längere Schatten warfen, und so lernte er die Tage zwischen der Winter- und der Sommersonnenwende zu zählen, und dadurch das Jahr zu finden. Und mit dem Jahr lernte er seine Lebensjahre zu zählen, usw.

Der Mensch erkannte durch das Mathema hindurch Muster, er lernte durch unser Mathema allerlei Dinge erkennen, die dem paradiesischen, noch eng mit der Welt verwobenen Menschen, unsichtbar und selbstverständlich waren. Der paradiesische Mensch kümmerte sich nicht um die Länge des Tages oder des Jahres, so wie etwa ein Bär nie auf die Idee kommt, die Tage bis zu seiner Winterruhe zu zählen, oder die Tage zum Ende seiner Winterruhe festzulegen. Der Bär hat keine solchen Ideen, denn die Natur in ihm, die Natur an die er seinem innersten Wesen nach gebunden ist, sagt ihm, wann es an der Zeit ist, zu ruhen, und wann es an der Zeit ist, wieder aus der Ruhe herauszukommen. Das Mathema lässt den Menschen dagegen Zusammenhänge in den weltlichen Phänomenen erkennen, nach denen sich dem Menschen die Aufgabe stellt, die Gesetzmässigkeiten dahinter zu entschlüsseln. Das Mathema lässt den Menschen die Natur nüchtern von aussen betrachten, um sie zu studieren. Unserem Beispiel, dem Bären, ist es hingegen nicht möglich, die Natur von aussen anzuschauen.

Der uraltertümliche Mensch fand sogenannte Bastfasern in den Stängeln einiger Pflanzenarten, mit denen er Schnüre, Leinen und gar Seile herstellen konnte. Das fand allerlei Anwendung, vor allem liessen sich mit Schnüren und Leinen Abstände bestimmen. Auf den Boden ausgelegte Leinen liessen grosse geometrische Muster darstellen, nach denen der Mensch seine Bauten für sein Quartier oder Lager gezielt ausrichten und bemessen konnte. Er konnte mit dem Mass nun etwas bestimmen, das es eigentlich gar nicht gibt: eine Grösseneinheit. „Diese Länge ist eins, und alle anderen Längen teilen sich daraus oder darin auf.“ Durch Knüppel konnte er in der Leine seine Abstände recht genau markieren. Eine Länge konnte ein Vielfaches oder ein Teilhaftes von der künstlich erschaffenen Grundeinheit sein, oder ein Vielfaches mit einem Rest Teilhaftigkeit. So kann z.B. mit einem rechten Winkel von Bein zu Bein geschritten werden, was zu grossen Schritten führt. Dadurch haben wir ungefähr einen „Meter“ pro Schritt.

Das Dazwischen und die Negativität

Der Abstand zwischen Objekten mag wie etwas Triviales scheinen, aber das ist er nicht. Der Abstand ist der Beginn der Mathematik, denn der Abstand ist eine Art „Grösse zwischen den Grössen“, ohne aber, dass er tatsächlich „ist“. Das gibt uns das Negative in ganz bestimmter Form, und das erlaubt uns die Subtraktion, das Dazwischen und den Nullpunkt, ja die vier Grundrechenarten (plus, minus, mal, geteilt) der Arithmetik überhaupt.

Durch das Mathema lernte der Mensch etwas erkunden, das wir Dimension nennen, das sich als „Raum und Zeit“ beschreiben lässt. Der Stock in der Erde war ihm seine Sonnenuhr, dadurch lernte er von der Bedeutung der Zeit; und seine auf dem Boden in Geraden und Bögen gezogenen Leinen wiesen ihn auf die Dimensionen des Raumes hin.

Das Mathema ist alt

Die Mathematik ist nicht 3’500 Jahre alt, wie heute vielerorts geschätzt wird. Diese Schätzung geht auf das zurück, was an archäologischen Funden physisch mit der Mathematik verbunden werden kann, wie etwa ein Instrument um zu rechnen oder zählen. Die Mathematik braucht jedoch keinen physischen Beweis zum Beweis ihrer Existenz, es reicht bereits etwas Menschenkenntnis zum Erkennen des Vermögens des Verstandes. Die Mathematik ist so alt wie die Arithmetik, das heisst so alt wie die Sonnenuhr und die Leine, mit denen der Mensch erstmals räumliche und zeitliche Grössen definieren konnte; und sowohl die Sonnenuhr wie auch die Leine sind nur ein wenig jünger als der nachparadiesische Mensch. Die Mathematik kann nicht jünger sein als die Arithmetik, weil der Oberbegriff nicht jünger sein kann, als einer seiner Unterbegriffe. Wir sprechen beim Alter des Mathema nicht von tausenden oder zehntausenden Jahren, sondern Äonen (d.h. Zeitaltern; griech. ἀιών aiṓnEwigkeit„). Das ist das Alter des Mathema, das kurz nach dem Erscheinen der Ratio, der Vernunft, durch den Menschen in Erscheinung trat. Es ist fast so alt wie all das, was wir unter den Begriff „Mensch“ fassen.