Die ersten Artikel haben das Thema der Fragmentation angerissen, mit der auseinandergesetzt wird, wie der Mensch sich von der Welt und seiner Umgebung ablöst und davon unabhängiger wird, wodurch die Kultur und daraus dann die Kunst entstanden sind. Weiter wird mit der Fragmentation beschrieben, wie sich der Mensch nun allmählich darin entwickelt, nicht nur unabhängiger von der Natur zu werden, sondern auch von seiner Blutlinie und mit der Zeit gar von der Kultur selber. Diese drei Dinge definierten einen jeden Menschen bis zum Christusereignis hin, und bestimmten fast alles menschliche Sein. Mit der sich über hunderttausende von Jahren fortschreitenden Abtrennung von der Natur, trennt sich der Mensch aber nach und nach auch langsam von der Bestimmung durch die Blutlinie ab, und sie gibt ihn im Verlaufe der Zeit weniger Eigenschaften vor. Und bereits heute ist die Bedeutung der Natur, der Volks- oder Familienzugehörigkeit (und vielleicht selbst die Bedeutung der Kultur, für die Ungeduldigsten unter uns) nicht mehr annähernd das Ausschlaggebenste. Der Mensch wird über die Jahrhunderte und Jahrtausende wahrhaftig zum Individuum, zum „Einzelnen“. Der Mensch wird mehr und mehr zu einem Wesen, das mit dem Wort „Ich“ etwas sagt, das eine ganz andere Bedeutung in sich trägt, als es im Altertum (Vorchristus) und im Uraltertum (Vorsintflut) noch der Fall war. Damals, als der Mensch sich stärker mit seiner Umwelt, seiner Mitwelt und Umgebung verbunden fühlte, war der Mensch stärker in die Welt hineinverwoben. Die Fragmentation, diese sich gemächlich vergrössernde Kluft zwischen dem Menschen und der Welt, lässt durch die gewonnene Selbstständigkeit unzählige neue Fallen und Fettnäpfchen entstehen, in die getreten werden kann – die zu vermeiden sind, aus denen aber mindestens gelernt werden soll, wenn doch in sie getreten wird. Wie im Vergleich dazu das Gehen für das kleine Kind einen Zugang zu unzähligen neuen Gegenständen und Gefahren eröffnet, bilden sich dem Einzelnen mit zunehmenden Möglichkeiten durch die Ratio immer auch neue Gefahren.
Ratio, Idee und Mathema
Die Fallen, aber auch die Möglichkeiten, die mit den nächsten drei Artikeln angeschaut werden, betreffen den Verstand, den Gedanken und das Wissen. Dafür werden wieder drei neue Begriffe eingesetzt: die Ratio für den Verstand, die Idee für den Gedanken, und das Mathema für das Wissen. Und der erste Artikel dieser Gruppe – dieser hier – beschäftigt sich mit dem Verstand (der Ratio).
Der Grund, warum ein Begriff nach dem anderen eingeführt und gebraucht wird, wie Spirit, Pneuma und Monade für die letzten drei Artikel, ist der, dass wir diese Begriffe in ganz bestimmter Weise für das Weltanschauungsprinzip definieren können, wie es für deren Bedeutungen, wie Bewusstsein, Sinn und Wesen nicht möglich ist, ohne dass letztere aufgebrochen werden müssen, wie z.B. in wahrnehmenden Sinn und in bestimmenden Sinn (das Pneuma beschreibt den bestimmenden Sinn).
Der Verstand ist Teil der Vernunft
Wir unterscheiden den Verstand von der Vernunft darin, dass wir den Verstand dem Einzelnen zuweisen, denn der Einzelne „versteht“, und wir bestimmen die Vernunft als dasjenige, das von allen verständigen Wesen geteilt wird. Die Ratio hat in beiderlei Platz; die individuelle Ratio ist beim Verstand, und die allgemeine (und auch die göttliche) Ratio ist bei der Vernunft. Weiter wird hier der Intellekt als das menschliche Vermögen gesetzt, die Ratio zu gebrauchen. Der Intellekt spielt mit dem Verstandenen, und gibt ihm eine Form.
So viel zu den Begriffen.
Die Ratio ermöglicht die Falschheit
Die Ratio ist die biblische Sünde („Sündenfall“), denn die paradiesische Welt vor der Fragmentation, vor der Trennung des Menschen von der Natur, in der Adam und Eva lebten und aus der sie verbannt wurden nachdem Eva von der Schlange zur Freiheit überredet wurde, das war nicht eine heile Welt, sondern eine, in der dem Leben und dem Tod keinen Wert oder Unwert beigemessen wurde, sondern die einfach geschahen. Es gab da keinen Vernunftsbegriff, keine Idee des Nichtexistierens, ja keine Angst vor der Idee des Nichts, keine Scham, keinen Zweifel, keine Sünde. Aus der Sünde entsteht erst die Möglichkeit der Moralität, ja überhaupt erst die Idee der Sünde. Sie wird dargestellt als das Feuer, das dem Menschen gegeben wird, an dem der Mensch sich die Finger verbrennen kann, das uns erst ermöglicht, in hochmütiger Absicht gewaltige Bauwerke wie den Turm zu Babel zu errichten; das aber auch das Bauen in demütiger und weiser Absicht ermöglicht, das sinnerfüllte, opfergebende und schöne Bauwerke wie die Pyramide oder die Kathedrale entstehen lässt; das überhaupt ermöglicht, grössere Menschengruppen zu organisieren, Kultur zu schaffen, usw. So war der Apfel, den Eva ass und dann mit Adam teilte, nicht der Apfel vom Baum der Weisheit, sondern der Apfel vom Baum der Erkenntnis.
Unsere Ratio ist das Tor (der Apfel) zur Erkenntnis, aber um dieses Tor herum finden sich zahllose Hindernisse in der Form von Nebel (Rhetorik und Sophisterei), Steinen (Ungenauigkeiten und Vorurteile), Bodenlöchern (Auslassung) und allerart anderer Hürden (Falschheiten), die den Durchgang zu wahrer Erkenntnis verschleiern und erschweren.
Neue Möglichkeiten, gute wie schlechte
Wie beim Kind, das auf einmal lernt aufzustehen und zu gehen, das dadurch im Haus die höher gelegenen Herdplatten erreichen und berühren kann, und sich durch die mögliche Erfahrung der Verbrennung eine schmerzliche Lektion einholen wird, das lernt durch den Schmerz einen bestimmten, vorsichtigeren Umgang mit dem Herd zu üben. Die Ratio ermöglicht hierbei ein Weiteres: die Lehre ohne die Erfahrung, denn der Vater oder die Mutter können dem kleinen Kind mit ihren Worten in zwar gutem Willen (aber wenig Weisheit) eine Angst einjagen, so dass es dem Herd fern bleibt. Eine richtige Lektion hat das kleine Kind dadurch aber nicht gelernt, eine bleibende innere Veränderung ist mit ihm nicht geschehen (und Kindern gezielt Angst zu machen scheint nicht die beste Idee zu sein), und so liegt die Ratio in diesem Beispiel eher bei den Eltern als beim Kind, denn die Angst gehört zu den Instinkten, nicht zum Verstand. Aber beim etwas mehr vernunftbegabten älteren Kind, das vielleicht mit einem neueren Herd aufgewachsen ist, an dessen Platten sich die Finger nicht versengen lassen (Induktionskochfeld), das nun ein älteres Modell mit gefährlichen Platten antrifft, dem kann durch die Eltern eine Erklärung der Funktionsweise und Gefährlichkeit des veralteten oder älteren Modells gegeben, und eine schmerzliche Erfahrung erspart werden, und es hat eine gewisse Erkenntnis alleine aus der Erklärung, ohne eine Erfahrung gemacht zu haben, und ohne dass im Kind Ängste geschaffen wurden. Das Kind, das sich mit der Erklärung zufrieden gibt, und dem die Überprüfung der Gefahr eine Absurdität ist, wird im Erwachsenenalter vielleicht zu einem jener Erwachsenen, die durch das fügsame, fleissige Ablegen unzähliger schriftlicher Prüfungen eine erfolgreiche Karriere macht, ohne im Leben gross originelle, oder irgendwie abtrünnige Gedanken gewagt zu haben.
Vielleicht hat das vernunftbegabte Kind aber ein noch älteres, aber unvernünftiges und schadenfreudiges Geschwisterchen, und dieses Geschwisterchen erzählt dem jüngeren in böser Absicht eine Falschheit darüber, wie mit den Herdplatten umzugehen sei, mit dem Ziel zu sehen, wie sich das kleinere Geschwister die Finger verbrennt. Das kleinere der Geschwister lernt daraus gleich von zweierlei, es lernt vom Schmerz und es lernt von der Lüge.
Aus der praktischen Erkenntnis entnehmen wir selten eine Falschheit (es nennt sich dann Schwindel oder Illusion), aus der theoretischen Erkenntnis können aber leicht alle möglichen Arten von Falschheit kommen, und in den allermeisten liegt keine Absicht. Die Begriffe geben uns die Möglichkeit, unabhängig von praktischen Erlebnissen zum wahren Schluss zu kommen, aber es entstehen dabei gleichzeitig zahllose Möglichkeiten, zu falschen Schlüssen zu kommen. Denn das Falsche kann die passendste, aufregendste oder lieblichste Form annehmen, es kann genau das sein, das ein Mensch sich wünscht, oder durch das ein Mensch in eine gewünschte Verfassung kommt, denn das Falsche ist an nichts gebunden, während dem Wahren aber nur genau die Form gestattet ist, die es mit seinem Gegenstand übereinstimmen lässt („Korrespondenztheorie der Wahrheit“). Selbst das Taktgefühl oder die Diplomatie sind Arten der Lüge, obschon viele gute Dinge daraus entstehen, denn sie verschleiern die wahren Gefühle und Absichten, um einen harmonischen Umgang zu erhalten. Der Mensch der weder lügt noch kindlich ist, ist ein unangenehmer Zeitgenosse (aber manchmal der Zeitgenosse, den es braucht). Auch die Justiz lügt, wenn sie behauptet, Gerechtigkeit zu vertreten, denn ihre Aufgabe ist der Erhalt einer bestimmten Idee einer Ordnung, nicht Gerechtigkeit. Ja überhaupt gibt uns die Ratio mit ihrem Vorhandensein das Mittel, für „Gründe“ alles überschreiben und verdrängen zu können, das unserem Wesen oder unseren Instinkten natürlich gegeben wäre.
Wie die Idee der Moralität nicht möglich ist, ohne die Idee der Sünde, und wie die Ratio für beides Verantwortung trägt, weil die Ratio das ist, das zwischen der Sünde und der Moralität die Trennung herbeigeführt hat, so trägt sie auch Verantwortung für die Falschheit, denn erst durch diese ermöglicht sie uns die Wahrheit. Die Ratio hat mit dem Menschen zusammen gesündet, als sie die Sünde entstehen liess, aber sie hat gleichzeitig auch das Schönste und Höchste in die Welt gebracht. Und so ist der Mensch nicht nur in Sünde geboren, sondern in Sünde und Moralität. Nun ist es weise, den Fokus auf die Sünde zu legen, weil der Mensch von Natur aus ein optimistisches Wesen ist, das lieber nur eine Sache anstatt zwei im Gedächtnis hält, und leicht dazu findet, sich moralisch zu nennen, selbst während er Gräuel anrichtet. Das zwanzigste Jahrhundert, mit all seinen traurigen Weltrekorden in Gräueltaten, sollte noch sehr nahe an unseren Moralvorstellungen sein, aber wir sehen, dass es kein Jahrhundert braucht, um jede der wichtigsten Lektionen daraus zu vergessen, und das Potenzial zur Sünde im Menschen herunterzuspielen, oder auf Extreme abzuschieben. So ist es nur rational zu sagen, dass der Mensch in Sünde geboren sei, und weiter, dass er zu leicht zur Sünde finde, wenn er achtlos ist gegenüber der Idee der Sünde.
Wir haben hier wiederholt das Paar Moralität-Sünde angeschaut und gebraucht, aber es könnte hier jeder Begriff gebraucht werden. Denn wenn ein Begriff eine Aussagekraft haben soll, so muss er seinen Gegenbegriff haben, zu dem er sich abgrenzend definieren kann. So ist die Sünde ein Beispiel, das besser als jedes andere veranschaulicht, was die Ratio in die Welt brachte, aber es könnte an jedem anderen inhaltsvollen Begriffspaar das gleiche in etwas abgeschwächter Form gezeigt werden.