Was ist Mensch

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Die Welt, mit der der Mensch verbunden ist, die nicht in ihre Teile aufgespaltet ist, nennen wir die Union, und die Welt, die sich am Zerteilen ist, nennen wir die Fragmentation. Wir haben kein Wort für die vollends zerteilte Welt, weil das Zerteilen keine feste Grenze hat – es ist ein Unendliches; es gibt keinen Punkt, an dem der Mensch sich eingestehen muss: „Hier ist kein weiteres Zerteilen mehr möglich.“ Das Zerteilen kann immer weitergeführt werden. Wir können aber sagen: „Hier ist kein weiteres Zerteilen mehr sinnvoll.“

Wir haben aber ein Wort für einen Teil, der vom Rest getrennt wurde: das Fragment. Eine einzelne Wissenschaft ist zu allen anderen Wissenschaften ein Fragment. Die Welt aber, die sich wieder zusammenfindet, die wieder zu einer Union, d.h. einer Einheit, wird, die befindet sich im Prozess der Unifikation. Wichtig sind uns hierbei aber erstmals lediglich die Union und die Fragmentation, um den alten Menschen, also den paradiesischen Menschen, vom nachparadiesischen, wie dem gegenwärtigen Menschen, zu unterscheiden – um weiter dann (in später kommenden Artikeln) die Aufsplitterung der Wissenschaften und dergleichen zu untersuchen.

Der Mensch, der sich von der Welt in gewissem Sinne abgetrennt findet, der mehr durch eine generationenübergreifende Unterrichtung lernt als durch seine natürlichen Instinkte, der sieht die Welt wie er selber ist (die dafür notwendige Spiegelung und die dreigerichtete Wirkung ist ein Zusammenspiel zweier Prinzipien, das in der zweiten Gattung des WAP, den drei Seelentönen, näher betrachtet wird): er sieht die Welt fragmentiert. Das muss noch etwas genauer gesagt werden: der Mensch sieht die Welt fragmentiert, aber er erkennt nicht notwendigerweise, dass er sie fragmentiert sieht. Er meint für gewöhnlich (eigentlich immer) sie als eine Einheit wahrzunehmen (wenn auch nicht als Einheit mit ihm, wenn er mehr darüber nachdenkt), obschon sich ihm, in einem Moment auf einmal, nur ein Teil von ihr zeigen kann.

Der Mensch, der mit der Fragmentation der Welt zu kämpfen hat, hat diesen Kampf dann zu kämpfen, wenn er selber ein Fragment geworden ist, dem aber nicht erlaubt ist, Fragment zu sein. Der aus dem gesellschaftlichen, freundschaftlichen, familiären und religiösen Zusammenhalt, der aus der gemeinschaftlichen Union gerissene oder entfremdete Mensch, hat alles zu stemmen, was sich im Zusammenhalt mit den Mitmenschen sonst, salopp gesagt, als „Widerspruch“ zeigt. Der Mensch, der nicht Fragment sein will, der folglich das Gegensätzliche in sich vereinigen will, selbst dort wo er einseitig sein müsste, wo die Einseitigkeit ihm erlaubt und nützlich ist, dieser Mensch hat mit der Fragmentation zu kämpfen. Er mag den Kampf in die Welt bringen, und mit einer Auswahl der Widersprüche der Welt hadern, das ist aber nur ein anderer Weg um an sich selbst zu arbeiten.

Die Menschen bringen eine Verschiedenheit in ihre Gemeinschaften, deren Seiten streng genommen zueinander unversöhnlich sind, die die Menschen zueinander tatsächlich aber ergänzen. Das ist nicht ein Grund zum Streit, sondern wie etwa bei Mann und Frau, die einander „widersprechen“, das Potenzial zu etwas Neuem.

Der Mensch sieht die Welt in „weltanschaulichem Sinne“ (d.h. im Sinne der dutzend Weltanschauungen, die man sich in zwölf einzelne aufgeteilt kreisförmig angeordnet vorstellen kann, wobei gegenüberliegende Weltanschauungen einander sehr fremd sind) notwendigerweise nur teilhaft, nicht nur dann, wenn er sich mehr als gewöhnlich von der Welt abtrennt. Es ist eine grundlegende Charakteristik der menschlichen Konstitution (menschlicher Natur), die Welt nicht durch die „Augen der Welt“, sondern durch die Augen des Menschen, ja der Ausformung seines „Fragments“ folgend, durch seine eigenen, individuellen Augen zu sehen. Der nichtparadiesische Mensch ist von der Welt abgetrennt. Es ist zu einer Bedingung dazu geworden, um Mensch zu sein, von der Welt in gewissem Sinne abgetrennt zu sein. Menschsein, ohne gottartig vollendet zu sein (was dem Menschsein bereits wieder widerspricht), ist notwendigerweise ein „Fragmentsein“.

So ist ein jeder Mensch fragmentartig, aber die anderen Menschen, die anderen und andersartigen Fragmente, füllen die Plätze aus, die der einzelne Mensch alleine nicht besetzen kann. Der Mensch kann weder alles noch nichts sein, so muss er etwas sein, und so kann er das meiste nicht sein – deswegen die Abhängigkeit des Einzelnen von anderen Menschen. Der Mensch kann das meiste nicht sein, weil er als einzelner nur mit übermenschlichem Aufwand alles Gegenartige, das sich überall und immerzu in der Welt und in ihm selber findet, in dessen ganzen Tiefe in seinem Bewusstsein fassen kann. Die Gemeinschaft hilft hier, und sie gibt dem Menschen überall dort eine ausgleichende Fülle, wo er alleine notwendigerweise nicht hinreichen kann.

Gemeinschaften bilden sich, wenn sie bewusst gesucht werden, bevorzugt aus ähnlichen Gesinnungen; und so liegt die Vermutung nahe, dass sich da bald einmal eine Einseitigkeit manifestieren wird. Das ist gut möglich, aber es geschieht nicht auf der Ebene des menschlichen Wesens, sondern auf einer intellektuellen Ebene. Die ideologische Gleichschaltung und dergleichen Verirrungen sind Phänomene, die woanderes geschehen als dort, wo der Mensch seinem Wesen nach ein Fragment ist. Der Mensch ist nicht seinen Meinungen nach ein Fragment, sondern seinem Wesen nach, denn die Meinungen, die ein Mensch sich einreden kann zu vertreten, können zutiefst mit seinem Wesen im Konflikt liegen, ohne dass der Mensch das bewusst merken muss (er wird daran erkranken, aber das kann er in seiner Klugheit wieder allerlei anderen Dingen zuschreiben). Der Mensch braucht sich nicht zu kennen, um sich in der Ideenwelt zu bewegen. Der Mensch kann somit auch in stark ideologisch gesinnten Gruppen einen notwendigen Ausgleich zu seinen (womöglich gleichsam notwendigen) inneren Einseitigkeiten finden, weil er in den Gruppen Menschen finden wird, deren Wesen sich von dem seinen in ergänzender Weise unterscheidet.

So stellt sich nun die Frage danach, was das menschliche Wesen ist. Der Mensch vereinigt das Gegensätzliche: Geist und Materie, Intellekt und Instinkt, physische Sinne und atavistische (natur- und geistverbundene, eigentlich nicht mehr zeitgemässe) Versenkung, Theorie und Praxis, usw. Fehlt dem Menschen etwas, so deformiert er sich in der einen oder anderen Art, oder er wird gar gänzlich lebensunfähig. Der Mensch, der z.B. durch den Tod den Körper ablegt, ist dem Bewusstsein nach nun nur noch Geist, nicht mehr Mensch; der Körper ohne Geist ist gleichsam nur Körper, und nicht Mensch. Der Mensch, der die verschiedensten gegenartigen Qualitäten ausgeglichen in sich halten und dafür Sorge tragen kann, wie Körper und Geist, das ist nicht nur ein Mensch, das ist der schöne Mensch. Zweitens sind dem Menschen aber Qualitäten gegeben, deren Gegenseite er nicht gleichzeitig in sich halten kann, deren Gegenseite er draussen in der Welt finden muss, wie beim anderen Geschlecht oder bei den verschiedenen Gemeinschaften, denen er wohl zugehören sollte. Das Zweite, die menschlichen Qualitäten deren Gegenarten zur gleichen Zeit ausserhalb sein müssen, sind die notwendigen Einseitigkeiten.

Wenn das einmal so angeschaut wird, kann einem fast sturm werden vor all den notwendigen Gegensätzlichkeiten und gleichsam notwendigen Einseitigkeiten, die jeder einzelne Mensch in seinem Dasein und in sich (seinem Wesen) unterbringen muss. Dass das für viele Menschen mehr oder weniger automatisch oder mühelos funktioniert, ist ein Hinweis auf gute gesellschaftliche Einbeziehung, sinnvolle Beschäftigung (im Arbeitsalltag), und vielleicht auch gute, geistige Führung. Vielleicht ist es auch nur ein Überbleibsel der „Union“ (mit der Natur, mit Gott…), und die Abläufe und Wechselwirkungen, des eindrücklich komplexen Zusammenspiels der gleichzeitig auftretenden Verschiedenheiten, sind nur deswegen so geschmeidig, weil sie nicht bewusst balanciert und kontrolliert werden müssen.