Wie auch beim letzten Artikel am Anfang zusammengefasst wurde, fassen wir hier wieder zusammen, was wir alles erledigt haben. Wir haben nun zwei Mal drei Begriffe angeschaut: Spirit, Pneuma und Monade, dann Ratio, Idee und Mathema. Das waren Geist (oder Bewusstsein), Sinn und Wesen, dann Verstand, Gedanke und Wissen. Die erste Gruppe beschreibt das Geistige am Menschen, die zweite das Vernünftige. Nun kommen wir zu einem siebenten (von schlussendlich zwölf) Begriffen.
Das Selbst liegt zwischen den beiden genannten Gruppen, und bei ihm kommen die sechs anderen Begriffe zusammen: wir kommen zur Psyche des Menschen. Um das Selbst oder die Psyche beschreiben und einordnen zu können, benötigen wir einen neuen Weltanschauungsbegriff: Substanz.
Das Selbst ist nicht das Innenleben
Es kommt nun leicht zu der Versuchung, bei der Beschreibung des Selbst vom „Innenleben“ zu sprechen: das Selbst sei demnach unser Innenleben, und dieses Innenleben würde belebt durch das Äussere – das Aussenleben (d.h. die Welt und die Mitmenschen). Aber dann kommen wir zu einem Widerspruch, denn was ist das Innenleben, wenn nicht das Körpergefühl, unsere Gedankenwelt, das Selbstbild, die Identität, die Seelentätigkeit usw? All diese Dinge – wir nennen sie Substanzen – sind nun bereits irgendwo bei einer jeweiligen Weltanschauung zuhause. Sie sind bei einer Weltanschauung, und keiner anderen, zuhause. Aber wenn diese jeweiligen Substanzen bei anderen, jeweiligen Weltanschauungen zuhause sind, dann werden sie nicht beim Selbst zuhause sein können, und zwar aus folgendem Grund. Es geht bei der Substanz um den zentralsten Bereich einer Weltanschauung, um den Kern einer Weltanschauung. Ihren eigensten Bereich wird die Weltanschauung mit anderen Weltanschauungen weder teilen können, noch teilen wollen. Ihre Substanz ist allein ihre Zuständigkeit. Da muss etwas anderes am Selbst sein als die verschiedenen menschlichen Weltanschauungssubstanzen wie Körpergefühl, Gedankenwelt, Seelentätigkeit usw; da muss etwas anderes sein, das zu finden ist.
Das Selbst ist also nicht die Seele, es ist nicht den Geist (respektive das Ich) es ist nicht das Körpergefühl, es ist nicht den Verstand, es ist nicht das Wesen – und ein halbes Dutzend weitere Dinge ist es gleichfalls nicht. Das Selbst ist die Spiegelfähigkeit in uns. Auf den Begriff der „Spiegelfähigkeit“ folgt gleich die Frage: was genau ist das Spieglein dann; was ist das Spiegelnde? Und was spiegelt es; was ist das Gespiegelte?
Stellen wir uns den Menschen als ein Ganzes vor uns, so sehen wir da etwas, das aus zwölf Substanzen besteht; aus zwölf Grundsubstanzen. Der Mensch ist nicht nur Körper (naiver Monismus), oder Körper und Geist (Dualismus), oder Körper, Seele und Geist (Trialismus), oder Köper, Leib, Seele und Geist (Quaternalismus). Wir können den Menschen gar in zwölf unterschiedliche und gleichwertige Substanzen aufteilen (Dozenalismus), nicht nur in eine einzelne, zwei, drei oder vier. Alles, was in der Welt an Substanzarten zu finden ist – an Geist, Materie, Idee, Psyche, Lebendigkeit usw – finden wir bei jedem Menschen zu einer Einheit vereinigt. Diese Einheit nennen wir Mensch. Wir sind dann bei einem Monismus, aber nicht mehr einem naiven, wie dort, wo geglaubt wird, dass der ganze Mensch allein aus einem Körper bestehe. Alles, was draussen an Verschiedenem in der Welt zu finden ist, finden wir in ähnlichen Proportionen bei jedem einzelnen Menschen wieder. Von Mensch zu Mensch unterscheidet sich das Verhältnis der verschiedenen Substanzen (das macht dann das Individuum aus), aber jeder Mensch hat von jeder Substanz immer etwas an und in sich.
Wir sehen den einzelnen Menschen somit als eine Einheit, als ein Ganzes gegenüber zwei anderen Ganzen: der Welt, und Gott. Der Mensch ist als ein Einzelner ein Teil einer sonderbaren, weil sehr ungleichen Dreiartigkeit. In dieser Dreiartigkeit haben die zwölf Grundsubstanzen jeweils ganz andere Ausmasse. Bei Gott sind die Substanzen vollendet, beim einzelnen Menschen sind sie kümmerlich, und in der Welt geben sie sowohl das Göttliche wie auch das Menschliche wieder. Jede dieser drei Entitäten – Gott, Mensch und Welt – straht sich aus auf das sie Umgebende, und das Umgebende strahlt gleichzeitig auf sie, auf diese Entitäten, wiederum ein. Und erst durch den Abdruck des Einen auf dem Anderen, dadurch, dass die drei Entitäten Gott, Mensch und Welt ihr Wesen nach aussen geben, dass sie das Wesen aufeinander abdrücken, erkennen wir wirklich das Eine (sei das Gott, Mensch oder Welt). Die Entitäten werden erst dadurch wahrnehmbar, dass sie sich auf andere Entitäten auswirken und bei diesen durch diese sichtbar werden. Wir sehen die eine Entität erst durch ihren Abdruck auf der anderen. Das ist ein schwieriger Widerspruch im Vorgang der Wahrnehmung.
Das können wir recht einfach und anschaulich beweisen, dass das Widersprüchliche in der Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt vorhanden ist; wir beweisen es am Menschen, und wir beweisen es durch einen Vergleich. Weil wir, als ein jeweiliger einzelner Mensch, selber ein Ganzes sind, können wir uns nicht erstens gleichzeitig auf unsere Umgebung ausstrahlen, zweitens das Umgebende sehen, und drittens sehen, was am Ausstrahlen ist. Der Mensch müsste sich in drei andersgeartete, separate und gleichzeitige Bewusstseine zerteilen, um zu einem Zeitpunkt sowohl sich wie auch seine Wirkung wahrnehmen zu können. Es ist dem Menschen nicht möglich, in einem Moment gleichzeitig eines und drei zu sein. Das ist für den Menschen so widersprüchlich wie etwa wenn ein Projektor (dessen Aufgabe es eigentlich ist, sein Bild auf eine weisse Fläche auszustrahlen) sein Bild nun direkt auf sich selber projizieren müsste, und dann das Hinausprojizierte von aussen zu sehen und zu interpretieren hätte. Sowas ist gänzlich unmöglich. Und so sind wir auf die Spiegelfähigkeit der Ganzheiten angewiesen, damit diese uns – einer weiteren Entität Mensch – zur unseren Bereicherung sichtbar werden können. Dass der Mensch nicht nur zu Wahrnehmung, sondern auch zu Reflexion fähig ist, ist also der Beweis der Wirklichkeit des Widerspruchs.
Der Widerspruch vom Selbst
So spiegelt der Mensch nun wieder, was auf ihn zukommt, und er sieht in seiner Umwelt gespiegelt, was er zu seiner Umwelt von sich hinausschickt.
Es klingt wie eine Ausrede, wenn das Selbst als Spiegelfähigkeit bezeichnet wird; eine Ausrede um nicht näher auf die Sache eingehen zu müssen. Aber es ist nicht eine Ausrede, sondern es ist bewirkt durch den Widerspruch im Wahrnehmenden. Um das Selbst benennen zu können, müsste zuerst der Widerspruch überwunden werden, und das ist einem nicht-absoluten Wesen wie dem Menschen nicht möglich. Ist das Selbst lediglich ein Spiegel, so ist es dadurch das genaue Gegenteil von einem Selbst: es ist dann alles andere, aber nicht „sich“. Der Spiegel gibt lediglich wieder, was auf ihn zukommt, nichts mehr. Der Spiegel zeigt nichts von sich, ausser seiner Ausrichtung und seinen Schäden. Die „Individualität“ eines physischen Spiegels ist darauf beschränkt, nicht korrekt wiedergeben zu können (durch Verkrümmungen, Brüche, Beschichungen, Schmutz usw). Wie also soll das Selbst etwas sein, das in grundlegendster Weise jeder Idee von einem „Selbst“ widerspricht?
Indem der Widerspruch zwar nicht überwunden, aber als gegebene Tatsache ausgehalten wird, kommen wir zur Antwort – auch wenn die Antwort leider ausweichend wirken wird. Aber es scheint keine andere wahre Antwort zu geben. Das Selbst des Menschen ist nichts mehr als ein (unreiner) Spiegel seiner Aussenwelt. Das Eigendste und Innerste am Menschen, was alles an ihm zusammenbringt, was ihm Vorstellungen gibt, ist dasjenige, das in ihm die Welt zusammenbringt.
Wir sprechen an dieser Stelle nun nicht mehr vom Geist oder dem geistigen Bewusstsein, wenn wir vom Ich sprechen, sondern vom Selbst: sein Ich – dasjenige, das repräsentiert wird, wenn der Mensch der Gegenwart „ich“ sagt – das ist nicht er, sondern die Welt. Das ist der ureigendste Kern des Menschen; sofern wir auf dem Boden bleiben und den Menschen nicht als etwas Geistiges, sondern als eine Ganzheit aus zwölf Substanzen begreifen.
Wie formt sich dann die Individualität eines Menschen, wenn sein Ureigendstes nur ein Spiegel ist? Dasjenige, das wir als Individualität wahrnehmen, das uns den Schein von Individualität gibt, formt sich durch die anderen Substanzen am Menschen. Aber das wirklich Eigene am Menschen ist die Wiedergabe der Welt. Je reiner die Wiedergabe ist, desto „eigener“ wird der Mensch. Je weniger er versucht, „sich“ zu sein (sich auf eine Spezialisierung zu beschränken, das wir wohl das Selbstbild nennen können), und je mehr von der Welt er repräsentieren kann, desto vollendeter ist er. Weil da also nichts Greifbares ist, von dem wir im Kern sagen können, dass hier das eigentliche Selbst ist und wie es „sich“ zeigt, wird die empfundene Leere ausgefüllt durch andere Substanzen. Deswegen wird bei der Psyche gerne etwa die Seele als ein Synonym hingestellt, obschon die Seele eine ganz andere Substanz als die Psyche ist. Meistens wird aber schlichtweg vermieden zu definieren, was die Psyche ist, weil sie schwer zu fassen ist, und eine solche Leere nicht gern ausgehalten wird.