Weltanschauungsmanifestation

Zum Studium und der Darstellung der zwölf WA gehört vieles dazu, darunter auch die Analyse des Zeitgeistes, um zu verstehen, welchen Platz die WA darin haben. Herauszufinden was die Gegenwart genau ist, i.e. welche Bedeutung und Berechtigung sie geschichtlich hat, ist eine sehr schwere Aufgabe, die zum Glück von verschiedensten Denkern, auch vielen der Gegenwart, mit unterschiedlichem Erfolg geschultert wird.

Das Studium der Geschichte ist für die Erkenntnis zur Gegenwart unerlässlich. Es ist Hubris zu denken, man könne die Gegenwart alleine an ihren Phänomenen festmachen, denn die Geschichte gibt einem Referenzpunkte, mit denen man die Gegenwart vergleichen kann. Möchte man dann noch einen Schritt weiter, und die Zukunft verstehen, so hat man ein sehr gutes Bild von der Vergangenheit, um ein gutes Bild von der Gegenwart zu haben.

Neue Technologien ohne geschichtlichen Vergleich

Was für den Zeitgeist der Gegenwart wichtig ist, hat in der Geschichte jedoch einige Lücken, nämlich dort, wo die Technologien eine Rolle spielen. Es gab in der Vergangenheit keinen Referenzpunkt, anhand dessen man z.B. schauen könnte, wie die Menschen damit umgingen, augenblicklich mit den meisten Menschen überall auf der Erde in Kontakt zu treten und sich ‘live’ auszutauschen. Es gibt keinen Referenzpunkt dafür, dass sich Menschen fast alle Informationen, die man sich denken kann, im Moment des ‘Bedürfnisses nach der Information’ holen können. Es gibt keinen Referenzpunkt für die heutigen Möglichkeiten von Propaganda, für die Komplexität des Alltags, der Wirtschaftswelt, der Kriegsführung, des Personenverkehrs, der Berufswelt, der Bildung, der verschiedensten Wissenschaften, usw usf. Das Allerschwierigste ist jedoch das Tempo der Veränderungen, die Geschwindigkeit, mit der neue Technologien am Entstehen sind, deren Wirkungen auf das Leben jedes einzelnen Menschen nicht mit der besten Fantasie auszumalen sind. Die Möglichkeiten, die durch den Komfort dieser und jener Implementation von Software vorhanden sind und entstehen, sind wie ein Tropf oder Steinchen, das ins Wasser fällt, wodurch eine Serie von Ringwellen, wie in einem Teich, sich nach aussen ausdehnt. Diese Wellen wirken sich in alle Richtungen, nach allen WA, aus. So hat eine Erfindung wie eine Dating-Applikation Auswirkungen auf das Sozialleben, eine andere wie eine Finanzdienstleistungs-Applikation ermöglicht einer vorher ausgeschlossenen Gruppe Zugang zur Investition in eine Ressource, eine dritte wie Podcasts (serialisierte Audiosendungen) in Kombination mit dem Austausch mit Zuhörern, kann in einem freien Format äusserst esoterische oder abstrakte Dinge behandeln, die nicht die Öffentlichkeit als Ganzes, sondern ein spezifisches Interesse betrifft. Speziell der dritte Punkt ist ein anschauliches Beispiel.

Medien

Während alte Medien noch von einem zentralen Punkt aus wenn möglich ‘alle’ ansprechen wollten, ist der Wunsch nach einer solchen Vereinheitlichung der Botschaft für jüngere Generationen nur noch eine unerfüllbare, viel zu leicht zu durchschauende Utopie. Die Botschaft wird verwässert, die Menschen, die die Botschaft vermitteln sollen, müssen Hüllen sein, deren persönliche Meinung keinen Platz hat. Die durch die neuen Medien ‘alt’ gewordenen Medien sind unpersönlich, zentralistisch, und zunehmend irrelevant. Substack wird bald mehr Bedeutung haben, als wenn man dann die vor zwanzig Jahren noch grössten Journale oder Stationen zusammen nimmt.

Was man als ‘Nachrichten’ bezeichnete, sind heute nicht mehr Berichte, die im Videoformat ‘nach’ dem jeweiligen Ereignis verbreitet werden, sondern schon während dem Geschehen selber. Der Bericht und das Geschehen ereignen sich, wenn möglich, gleichzeitig, nicht nacheinander. Die Information soll jedoch noch immer durch diese oder jene ideologische Rahmenbildung geformt werden, aber man hat kaum noch die Zeit, mit Nuance ein neutrales Bild einer gewünschten Ideologie entsprechend einzufärben, was bedeutet, dass die Ideologien der verschiedenen Organisationen, welche Berichterstattung betreiben, die ihnen unliebsamen Bilder überhaupt nicht mehr zeigen. Die Ideologie muss durch die Gleichzeitigkeit von Bericht und Geschehen also aufgeben, zu versuchen, möglichst viele zu überzeugen, und möglichst massentauglich zu sein, sondern sie muss stattdessen ihre eigene Position vertreten, und dabei nun als erstes versuchen, sich dem Gewinnen von Aufmerksamkeit zu widmen, nicht dem Gewinnen universeller Akzeptabilität. ‘Gleichschaltung der Nachrichten’ war ein Symptom der technologischen Möglichkeiten der alten Medien, das Symptom der Möglichkeiten der alten Medien mit neuen Technologien ist der ‘ideologisch selektiv nützliche Momentbericht’. Die neuen Medien funktionieren auch mit ideologisch-selektiv nützlichen Momentberichten, aber sie haben eine Guerillastrategie, d.h. eine asymmetrische, opportune Koordination. Die alten Medien haben hingegen eine zentralisierte, hierarchische Struktur.

Für den Konsumenten ist es dadurch herausfordender geworden, die Landschaft der Momentberichte zu navigieren, und ‘Nachrichten’ muss er fast aktiv suchen.

Der Zeitgeist

Es ist zunehmend eine Anforderung unseres Zeitgeistes an seine Menschen, dass sich diese ihre Informationen selber einholen, ordnen, und sich daraus ein Gesamtbild formen. Die Dinge sind sich derartig exponentiell am entwickeln, dass es bald schwierig wird, zwischen Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden. Und so sind die folgenden Beobachtungen zu medialen Technologien und deren Implementation im Moment vielleicht noch nicht so ausgeprägt wie ich sie sehe, aber die Tendenz geht bestimmt in jene Richtung: das Bild, das sich der Mensch durch die persönlicher, direkter, spezialisierter gewordenen Medien selber aufbauen muss, ist eine Anstrengung, und es gelingt nicht immer. Die möglichen Irrwege sind unzählig, und das Wahre hat Eigenschaften, die in meinen Augen sehr schwer zu bewältigen sind, wenn man sich nicht der Natur der ‘wahren Oppositionen’, bewusst ist, wie von den zwölf WA gelehrt wird. Weiter gibt es viele Denkfehler, die einem in dreierlei, im Urteilen, im Einschätzen und im Verarbeiten, im Wege stehen.

In anderen Worten ist der Mensch ohne Vorwarnung sehr viel mehr auf sich selbst gestellt, als vielleicht gut für ihn ist. Vergleicht man das mit der Welt unter den Botschaften der alten Medien, so finden sich da bedeutende Unterschiede. Es sind durch die unzähligen aus dem Boden spriessenden Technologien, die selber auch immer wieder Dinge ermöglichen, die vorher nicht möglich waren, jedoch eine Vielzahl an Aufgaben für den Menschen am entstehen. Durch das Kondom ist Familienplanung heute eine bewusste Entscheidung, Dating-Apps sind eine Selektion nach der bestmöglichen Partnerschaft unter Millionen – es sind häufig nicht mehr Zufälle, die das Leben bestimmen, wie das unabgesprochene Treffen in einer Bar, die den Ausschlag für den Lauf des Lebens geben. DeFi (dezentralisierte Finanzdienstleistungen) und Tokenisierung (Finanzialisierung von Allem, sei dies eine einfache Dienstleistung, eine digitale Kopie, jeglichste Form von Zeit usw) individualisiert und chrematisiert bald weiter das Leben eines jeden. Die Implikationen von Tokenisierung allein sind nicht vorstellbar. Ein jeder hat mit dieswn Technologien die Möglichkeit, seine eigene Welt zu bauen. Seine eigene Medienwelt, seine eigene Finanzwelt, seine eigene Form von Sozialität, usw.

Der Mensch mag sich in der Komplexität verirren, aber er hat auch die Möglichkeit, sich darum zu kümmern, sich selbst zu finden, e.g. was ihn selber interessiert, was nicht. Während die alten Medien etwas vorgaben, von dem man sich in bestimmter Weise unterscheiden konnte, und dies, zumindest unter den Nachrichteninteressierten, das Ausmass des Individualismus war, gibt es heute nicht einmal eine Grundlage, auf und nach der ‘Information’ aufgebaut sein muss. Jeder ist ‘auf sich selbst gestellt’, und für manche tun sich da schwindelerregende, beängstigende Abgründe auf.

Konsequenz für Weltanschauungen

Für die WA ist das vielleicht nicht für den einzelnen, aber durchaus im Grossen und Ganzen günstig, denn das zentralisierte Wesen der alten Medien hat etwas von der möglichen Vielfalt der menschlichen Naturen genommen. Es ist jedoch auch eine Gefahr für den einzelnen Menschen so ins kalte Wasser geworfen zu werden. Jene aber, die sich trotz allem in der Komplexität zurecht finden, werden Werke schaffen werden, die heute alle Vorstellungskraft sprengen werden. Das System der zwölf WA soll bei der Orientierung in der Komplexität jenen seltenen Menschen zusätzlich helfen.

Es hilft nichts, ob der neuen Probleme, mit denen der individuelle Mensch konfrontiert wird, und teils daran versagt, an ein altes Dogma zu appellieren, und die Menschen dazu aufzurufen, dem Format der alten Medien und deren selektiv auserwählten Experten doch wieder zu vertrauen, und auf das selbstständige Recherchieren in den wildesten Ecken des Internets zugunsten des Konsums der medialen ‘Zentralorgane’ zu verzichten. Edward Snowden beschreibt die alten Medien sehr treffend (ungefähr) als: “Information von Google, die jemand anderes als Du googelt”. Manche versuchen den Kompromiss, und das Format der alten Medien auf das Internet zu übertragen, was langfristig auch zum Scheitern verurteilt ist. Auch bringt es nichts, solche Menschen blosszustellen, da eine daraus resultierende kognitive Dissonanz lediglich für die Widersprüche kompensiert, bis sich das Bild der Welt wieder einpendelt, aber noch immer genau gleich irrig verbleibt. Das ist in etwa wie einen Jungen, der sein ganzes, kurzes Leben mit dem Fahrrad (entspricht in der Analogie einem alten Fernseher oder Radio) abstrampeln musste, zu bitten, doch auf das Auto (Internet) zu verzichten, das er gefunden hat, weil er noch nicht gelernt hat, ordentlich damit zu umzugehen. Er wird bestimmt einen Unfall bauen, aber zum Fahrrad zurück wird er nicht wollen, solange er das Auto (i.e. das Internet) hat. Anstatt zu zeigen, wie die selber gefundenen Informationen falsch sind (wir haben als Menschen ein Vorurteil zugunsten des selber Gefundenen), und auf die anerkannesten Informationen zu verweisen, sollte man lieber versuchen, die Navigation im Internet und im Denken zu unterrichten. Das ist der Weg den ich für die WA sehe, um jene zu einem Aufleben zu bringen. Die Hürden und Fallen auf dem Weg dahin sind jedoch gewaltige.

Es fällt mir noch sehr schwer, die neuen Technologien und deren Implikationen in einer nützlichen Hierarchie darzustellen, und so gehe ich an die Sache mal aus dieser, und mal aus jener Richtung. Jordan Greenhall z.B. meint, dass die Implikationen neuer Kommunikationstechnologien bedeutende Implikationen auf ‘Sinnmachung’ und ‘Kohärenz’ haben – viel grundlegender geht es wohl kaum – und er belegt das in dieser ‘Silicon Valley’-Manier (Schneidersitz, Futurismus, alles ist ein Programm oder in Programmen zu verstehen usw), aber in sehr origineller Weise (in Englisch auf Youtube). Es fällt mir auch darum schwer, hierarchische Ordnung in diese Erscheinungen zu bringen, weil alles am geschehen ist, und immer wieder neue Dinge erscheinen, und dies wiederum immer schneller, die sich von mir nicht ermessen lassen. Die ‘Tokenisierung von Allem’ allein ist etwas, das mir seit Wochen den Kopf zerbricht, weil ich das mögliche Ausmass der Auswirkungen nicht eingrenzen kann. Vielleicht ist das auch ein Aufwand, der nicht einen brauchbaren Ertrag bringt, und die Zeit ist besser in die WA selber investiert, als in Versuche, die Gegenwart umfassend zu verstehen.

So viel scheint nun klar, dass also die neuen Medien zu einer Individualisierung führen, die auch ihre Risiken hat. Diese Individualisierung kann sich, wenn keine Dummheiten oder Unachtsamkeiten begangen werden, in der Manifestation der WA eines Menschen zeigen. In anderen Worten kann es durch die Individuation geschehen, dass der Mensch sein eigentliches Selbst findet, dass sich sein Selbst, innerhalb der Rahmenbedingungen (sprich, dessen was auf der Welt möglich ist) der WA, der Welt offenbart. Des Menschen Anschauung findet und festigt sich, und das ist die ‘Weltanschauungsmanifestation’. Eine Gefahr, die dem im Wege steht ist das Suchen nach Rückhalt in Sippen ob einer empfundenen Einsamkeit durch die Individualisierung, dann die Autoideologisierung, wonach die Menschen ihr wirres Bild von der Welt wie ein Skript ablesen, anstatt tatsächlich zu denken. Ein weiterer Abweg ist das mutwillige Abpflücken verschiedenster Ideen von verschiedensten Ideologien, aus dem sich dann gewaltiger Unsinn aus einer gewaltigen Vielfalt an Unsinn ausformt.

Das ist dann auch eine Gefahr für den Dialog, denn dadurch würden die Menschen nur noch ihre Ideologie-Collagen aneinander reden, wobei nicht nur eine Ideologie verteidigt wird, sondern sie verteidigen sich selbst. Die unikate Ideologie wird zur Person, der Mensch und dessen Ideen werden zu einem, und das Rechthaben wird alternativlos. Ein Mensch, der sich mit seiner Weltanschauung identifiziert, ist noch nicht sogleich in einer Schwierigkeit, wenn aber die Weltanschauung einseitig angewendet wird (will heissen: auch dort wo sie nicht hingehört), so wird, was scheinbar seine WA ist, diese, respektive nun er selber, innere Widersprüche entwickeln. Und weil sich dieser Mensch mit seiner WA identifiziert, ist er als Person zu einem Widerspruch geworden. Falsch zu liegen fühlt sich damit an, als würde man ‘weniger existieren’. Die Verteidigung der WA wird zu etwas Existenziellem. Etwas eigentlich so einfaches wie Dialog wird dadurch möglicherweise unglaublich schwierig.

Das sind experimentelle Gedanken, die noch entsprechender Beobachtung bedürfen (apriore Gedanken, die von posterioren Gedanken korrigiert und abgelöst werden sollen). Es ist aber im Sinne dieses Projekts, nicht nur die zwölf WA zu erklären und zu empfehlen um sinnvoller zu kategorisieren, sondern auch Gedanken zu möglichen Gefahren anzustellen.

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