Leibnitzens Spruch, wir lebten in der besten aller Welten, ist mir zu einem im Stillen liegenden, aber immerzu präsenten Wegweiser geworden: was existiert, hat einen Grund und ein Recht zu existieren, weil es sonst nicht sein könnte. Wer denkt, dies sei vor der Wirklichkeit grossen Leidens und Ungleichheit eine äusserst privilegierte Aussage, hat die Tragweite des Gedankens nicht verstanden – oder reagiert aus einer urteilenden Gewohnheit – weil die Aussage nicht einzig das Leiden (den Moment) zum Inhalt hat, sondern die Totalität von allem (das Sein mitsamt all dessen Potential). Leiden ist überall vorhanden, denn wenn es einem nicht von der Welt(-psyche) aufgebürdet wird, so wird es von der eigenen, inneren Psyche kreiert. Empfundene Leidenslosigkeit kann genauso zu einem leidvollen Überdruss führen (siehe z.B. Medikation der reichsten Populationen der Welt), wie das Leidensübermass zu Verzweiflung führen kann. Die Leidenslosigkeit als ein Problem zu bezeichnen, bringt einen jedoch auf ebenjenes schwer zu erklärende Wasser, das für alle Vorhaben unter stets zu dünnem Eis zu sein scheint. Wem die Welt aber eine schlechte ist, dem sei die Welt halt eine schlechte (es wird, um mit einem Zirkelschluss zu spielen, schon ein Rechtes haben, wenn dies gedacht wird).
Ich meinte in einem anderen Artikel zum individualistischen Libertarismus (einer bedeutenden Unterkategorie des Voluntarismus), dass ich nicht mehr als erstes überzeugend sein möchte (wie hier), im Artikel also nicht mehr rhetorische Kompromisse zugunsten eines wichtigeren Argumentes eingehen möchte, weil ich es zwar nicht als verlogen, aber als aalig oder schmierig empfand, und es mir einen faulen Geschmack hinterliess. Folgendes ist kein Kompromiss, es ist ehrliche Selbstkritik. Der nicht individualistische Libertarismus nenne ich den kollektivistischen Libertarismus, der die Freiheit einer Gruppe von Menschen anstrebt. Individualismus und Kollektivistismus widersprechen sich nur zum Schein, weil sie unterschiedliche Dinge betrachten. In diesem Artikel geht es nur um den individualistischen Libertarismus. Überzeugend zu sein schafft angepasste Wahrheiten, und verzerrt damit das reine Signal in etwas, das Lärm (‘Noise) an sich hat.
Es gibt nun den Marxismus, der von den Libertären bekämpft wird als unwissenschaftlich, ökonomisch unverständig, widerlegt wo widerlegbar, historisch verwerflich usw usf dargestellt wird. Beschäftigt man sich mit deren Argumenten, und vergleicht diese wieder mit daraus folgender Konter, wird man sehen, dass die Libertären in ökonomischen Fragen von Fall zu Fall sehr gut formulierte Gedanken und Argumente vorbringen können, welche das sozialistische, wie auch das theoretischere marxistische, Argument gründlich widerlegen – wie es scheint.
Was die Libertären nämlich nicht erklären können, ist der Sozialismus als ein begründetes, rechtmässiges Phänomen (das lediglich grosse Mühe hat, sich, zumindest in ökonomischen Fragen, emotionslos zu definieren und auszudrücken). Die Libertären sehen aus zwar guten, aber wenig philosophischen Gründen die Ansprüche auf soziale Gleichheit als einen ‘Fehler’, als ein akademisches Irren in der Geschichte der Menschheit. Es kann nach ihnen nicht sein, dass ein solches Irren Wahrheit in sich trage. Es ist jedoch falsch anzunehmen, dass jenes Sozialistische, in der speziellen Sprache des ökonomischen Denkens nicht zu Rechtfertigende, aus dem Grund, dass es aus ökonomischer Sicht bisher nicht gerechtfertigt werden konnte, keine tiefere Wahrheit hinter sich habe. So wahrhaftig alle (ökonomische wie auch geschichtliche) Kritik der Libertären am Marxismus tatsächlich ist, wir können wissen, dass hinter dem Marxismus etwas steht, das wahr ist, und wir wissen, dass wir das wissen können, weil es sehr viele unterschiedliche Menschen gibt, mit denen der Marxismus aus unterschiedlichsten Gründen resoniert. Zu sagen, dass diese Menschen alle irren oder lügen oder sonstwie unlauter seien, ist eine so selbsterhöhende und oberflächliche wie falsche Analyse.
Kritisieren wir eine Idee in gründlicher Weise, so sind wir, sofern wir gerecht argumentieren wollen, verpflichtet, nicht nur das Schlechteste daran vorzuzeigen, sondern auch das Beste daran zu widerlegen. Das beste Argument am Marxismus ist jedoch etwas, wie ich meine, noch Unausgesprochenes, weil die Marxisten aus verständlichen Gründen den Libertären die notwendigen Zugeständnisse nicht machen wollen, um einen umfassenden Gedanken aufzubauen. Vertieft man sich in das Wesen von Marx (und vielleicht auch Engels), so wird man sich an tausenden Kleinigkeiten aufhängen, wenn man ökonomisch-libertäre Begriffe kennt, und es ist äusserst anstrengend, sich mit Menschen wie Rothbard oder Mises als Hintergrund, durch ein Buch wie ‘Das Kapital’ zu kämpfen. Liest man das Kapital mit einer gewissen geistigen Beweglichkeit, wird man auch finden, dass alles bei Marx zuerst dem Narrativ untergeordnet werden können muss, dann erst untersucht wird (der ganze dialektische Materialismus wurde nur zu diesem Zweck ‘existierend gemacht’, die Evolution der Gesellschaft durch Revolution mitsamt allen Prophezeiungen zu Gesellschaftsstufen ebenso, wie möglicherweise ausnahmslos alles andere darin auch), was zu einer beeindruckenden Einseitigkeit führt. Dennoch kann man sich mit zusätzlicher Vertiefung gewiss sein, dass man irgendwann in der Lektüre ein – vielleicht unerklärliches – Gefühl davon bekommt, dass da Gründe versteckt liegen, die all jene seltsamen Gedankengänge und Idealsrechtfertigungen der Marxisten erschliessen können. Was diese Gründe sind, für die man allerdings das rechte, im Urteil zurückhaltende Gemüt haben muss, um sich darauf einlassen zu können, soll in einem anderen Artikel speziell zum Marxismus unter Idealismus (“KPT-ILM”) einmal etwas näher betrachtet werden.
In diesem Artikel hier soll es nun primär um die Libertären und ihren Voluntarismus (darin: ‘Willenslehre’) – der sich unter den jungen Folgern meist als voluntaristischer Idealismus zeigt – gehen, allerdings ist es wohl einer jener Fälle, wo eher über die Opposition als über die eigentliche Sache gesprochen wird, um das Ziel zu ergründen.
Voluntärer Verzicht auf Voluntarismus
Das ‘in Ruhe gelassen werden Wollen‘ ist etwas, das ich mir oft wünsche, wenn ich mit Regeln konfrontiert werde, die mit mir persönlich nichts zu tun haben, aber mein Verhalten in unnatürlicher Weise in eine Richtung zwingen, die mit meinen Wünschen und Interessen nicht übereinstimmt. Ich verstehe nicht, warum es nicht mehr Menschen ähnlich ergeht, denn meist wehren sich Menschen erst gegen Regeln als etwas das sehr schnell die Grenze des Sinnvollen überschreiten kann, und den Menschen irgendwelche Dinge aufdrängt, die eigentlich nur mit ihm persönlich zu tun hätten, wenn sie selber mit einer Regel nicht einverstanden sind. Ich nenne das den ‘libertären Moment’. Dies verbindet mich mit den Libertären, das ‘in Ruhe gelassen werden Wollen’. Und hier kommt das marxistische Argument zum Zuge, denn es fordert ein Opfer von einem, zugunsten von etwas, das man als ein Abstraktum bezeichnen könnte. Ich persönlich möchte dieses Opfer nicht erbringen, aber z.B. im Kontext von Grosstätten, oder manchen möglichen Extremsituationen wird es zu einer Notwendigkeit. Dieses Abstraktum ist die Gesellschaft, die, seit die Menschen durch sanitäre, elektrische, baustatische, und viele andere Fortschritte in Technik, in grosser Zahl auf engem Raume leben können, Bedingungen an das Individuum stellt, die man weiter abseits – auf dem Land – viel weniger als eine Notwendigkeit erlebt. Dort, wo sehr viele Menschen zusammen kommen, und Beschäftigung, Sinn und Mittel (Kampfbegriff: Kapital) benötigen, reicht es nicht mehr, mit libertärem Optimismus davon zu sprechen, wie der Mensch in diesem und jenem Falle seine Interessen wahrnehmen könne und solle, und könne er das nicht, müsse er halt aus seinen Fehlern lernen, jada, jada… Es reicht in der Betrachtung der Metropole nicht, vom Verstand des Einzelnen zu sprechen, weil man etwas hat, das über das Individuum hinaus geht. Man hat eine soziale Ordnung, man hat darin (soziale) Hierarchien, und darin hat man Menschen, die derart auf ihr Feld spezialisiert sind, dass sie für viele Dinge Verantwortung delegieren (nach oben, an Politiker), während sie für ihre Spezialisierung eine eigentlich unnatürliche Menge an Verantwortung (für die Gesellschaft) übernehmen. Es wird dadurch ein System benötigt, das die Regeln verhandelt, die für die Allermeisten gelten, damit die Ordnung aufrecht erhalten bleibt. Dieses System ist bisher nur als politisches System möglich, ich kann an keine praktische Alternative denken. Die Menschen in der Stadt oder Metropole sind mit den daraus folgenden Einschränkungen als ein für sie genügend vorteilhafter Kompromiss einverstanden, weil sie darin bestimmte Freiheiten haben, welche die Einschränkungen aufwiegen. So wird auf einen Teil des Selbst zugunsten einer Zugehörigkeit, Nützlichkeit, Vorteile, usw, verzichtet.
Das politische System ist derart geformt, dass alle darin Platz haben. Im libertären Optimismus hat es keinen Platz für die Erfolglosesten, sie gehen zugrunde, wenn ihnen nicht von anderen, aus freien Stücken, geholfen wird. Die Libertären haben durchaus recht, wenn sie sagen, dass dies geschehe, dass Menschen nämlich ohne eine Entgeltung anderen helfen. Aber wir sprechen eben von der Metropole, in der Anonymität häufig ist, nicht vom Dorf, in dem jeder jeden kennt. Es wird Menschen geben, die in der Metropole nicht um Hilfe fragen können, die nicht aus Fehlern lernen können, die trotz aller Anstrengung nicht vom Fleck kommen, die vom Rest abgehängt werden. Und wir sprechen nicht von Hunderten oder Tausenden, wir sprechen von Hunderttausenden in ein und derselben Stadt! Es sind Zahlen, die man sich nicht vorstellen kann, es ist eine Komplexität, die von der aktiven Teilnahme einer unermesslichen Anzahl Bürger abhängig ist. Sinnleere, Arbeitslosigkeit, persönliche Krisen einzelner, können für die Gesellschaft als Ganzes fatale Folgen haben, wenn sie eine gewisse Anzahl der Menschen befallen. Da braucht es ein System, so abstossend das klingt, das sich aufdrängt, das die Leute in Bewegung, Beschäftigung, Tätigkeit hält, das ihnen ein Mass an Leiden aufbürdet, das sie sowohl aktiv hält, als auch nicht überfordert. Der persönliche Kontakt ist in der Metropole eine Variabel, die im libertären Optimismus vielfach abgeschnitten ist, und die Libertären können in ihrem imperativen Positivismus nicht dafür kompensieren. Sie adressieren die Quantität der Menschen in Grosstätten nicht, und rationalisieren ihre Ideale mit Hilfe kleinerer Dimensionen.
Der Voluntarismus hat durchaus seine Berechtigung, sonst würden sich nicht so viele wahre Aussagen finden lassen, aber für unsere sieben Denkgemüter, von denen der Voluntarismus eines ist, gilt derselbe Leitspruch, wie für die zwölf WA:
Auf ihrem jeweiligen Gebiet sind die sieben Denkgemüter angebracht, auf einigen sind sie unnütz, und mancherorts können sie gar schädlich sein.
-steinerschüler
Wo die individualistisch-Libertären mit der Hilfe des Voluntarismus nun Aussagen zu Wirtschaft machen, werden sie viele nützliche Dinge von sich geben. Wo sie aber Aussagen zum Zusammenleben ausserhalb des Wirtschaftens machen, kommen sie dort an eine Grenze, wo das Individuum seinen Platz mit anderen, auch Fremden, Teilen muss, und weder den Raum noch die Einfachheit vor sich hat, all seine Interessen angemessen wahrzunehmen. Wo der Mensch nicht wirklich frei sein kann, aber das Verbleibende ihm genügt, muss man anders denken, als mit einer kompromisslosen Freiheitsdoktrin (es ist keine Freiheitsphilosophie im libertären Denken, weil es leider nicht versucht, das Beste am anderen Argument zu ergründen).