Der österreichische Akademiephilosophe Karl Acham veröffentlichte 1 2 im internationalen Phänomenologie, Hermeneutik und Metaphysik-Magazin 3 einen Artikel zum Weltanschauungsbegriff, mit dem Titel “Weltanschauung: Über einige ihrer Formen und Funktionen“. Im Folgenden wird der gesamte Artikel wiedergegeben (was viel Zeit frisst, da sich PDFs vehement dagegen wehren, in ein normales Format gebracht zu werden, und dieser Artikel ursprünglich selber schon reich an Formatierungsarten ist).
An solchen Artikeln ist zu sehen, dass bei vielen Philosophen Kategorien etwas Schönes an sich haben müssen, um anerkannt zu werden. Es ist erleichternd zu sehen, dass Ästhetik in Universitäten nicht überall durch rein funktionale Logik verdrängt wurde. Hut ab vor Herrn Acham.
Hier das PDF:
von Karl Acham
Weltanschauung: Über einige ihrer Formen und Funktionen
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag untersucht vergleichend einige zentrale Denkformen und Gedankeninhalte, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in der Philosophie und den Sozialwissenschaften mit dem Begriff der Weltanschauung in Beziehung gebracht wurden. Beginnend mit Kants Unterscheidung von „Anschauen“ und „Erscheinen“, also der aktiven Weltbetrachtung sowie dem rezeptiv erfahrenen Weltbild, führen die Betrachtungen weiter zu Wilhelm Diltheys Typologie der Weltanschauungen, zum Streit zwischen Ideologie und Wissenschaft bei Karl Marx, Joseph Schumpeter und Theodor Geiger, sowie zur Vielfalt von Wittgensteins „Sprachspielen“ und „Lebensformen“. Zum Schluss wird die Frage erörtert, inwiefern die Weltanschauungsanalyse –was Karl Mannheim angenommen zu haben scheint –einen Beitrag zur Beilegung von Konflikten zwischen den ideologischen Weltanschauungs-Parteien zu leisten imstande ist.
Schlüsselwörter
Weltanschauung; Formen; Funktionen; Dilthey; Typologie der Weltanschauungen.
Einleitung zur ursprünglichen Ambivalenz des Begriffs der Weltanschauung
Das Wort “Weltanschauung” erscheint zuerst 1790 bei Kant in seiner Kritik der Urteilskraft, (KANT, 1968, S. 254) 4 und von dem damit Gemeinten heißt es, dass ihm “als bloßer Erscheinung” die “Idee eines Noumenons […] zum Substrat untergelegt” werde. Der Ausdruck bezeichnet einerseits den Vorgang des Anschauens, andererseits den des Erscheinens. Grammatisch-semantisch gesprochen heißt das, wie Werner Betz in einer der Geschichte des Wortes “Weltanschauung” gewidmeten Abhandlung bemerkt, dass Kant ein Wort gebraucht, “das”, wie beispielsweise das Wort ‘Übersetzung’ auch, “nicht nur Nomen actionis ist, Bezeichnung des Vorganges, sondern das zugleich auch ein Nomen acti, Bezeichnung des Ergebnisses darstellt. […] Diese doppelte Funktion wird für Kant durch das Wort Weltanschauung, erfüllt, besser als durch die schon vorhandenen Ausdrücke ‘Weltbetrachtung’ oder ‘Weltbild’, die jeweils nur entweder Nomen actionis oder Nomen acti sind, während eben Weltanschauung in der Sprache Kants als Anschauung schon beides in sich vereint.” (BETZ, 1981, S. 19) Dass “Weltanschauung” also durch das aktive individuelle Anschauen gewonnen werden kann, andererseits aber ein durch viele Anschauungen und Gewöhnungen kondensiertes Bild oder System meint, macht den Reiz und den Erfolg des Wortes in seiner bisherigen Begriffsgeschichte aus.
Religiöse Glaubensinhalte werden in den folgenden Betrachtungen zu den Formen und Funktionen der Weltanschauung ausgeklammert werden. Für diese bedürfte es einer besonderen Untersuchung.
Einiges zur weiteren Entwicklung des Weltanschauungsbegriffs
In der Zeit nach Kant führte der Weg der Erkenntnisbemühungen häufig zur vereinseitigten Analyse von entweder Anschauen oder Angeschautem, von subjektiver Welterfahrung bzw. objektiviertem Erfahrungsresultat. Dass dabei oftmals Weltanschauung, und zwar durch das Wörtlich-Nehmen im Sinne des nomen actionis, zu spöttischer Kritik Anlass gab, belegt exemplarisch eine Stelle in einem Brief Jacob Burckhardts an Gottfried Kinkel: “Vor Zeiten war ein jeder ein Esel auf seine Faust und ließ die Welt in Frieden; jetzt dagegen hält man sich für ‘gebildet’, flickt eine ‘Weltanschauung’ zusammen und predigt auf den Nebenmenschen los.” (BETZ, 1921, S. 276) Die von jeglicher Überprüfbarkeit enthemmte Subjektivität ist es, welche hier in Betracht steht und erkenntnistheoretische Realisten auf den Plan gerufen hat. Später erfolgte eine Art Ontologisierung der Weltanschauung, eine Änderung der Aufmerksamkeitsrichtung vom Vorgang zum Resultat, vom nomen actionis zum nomen acti. Darauf ist hier im einzelnen nicht einzugehen; es mag hier der Hinweis genügen, dass der Inhalt einer Weltanschauung zumeist entweder im Sinne der theoretischen Vernunft als Erkenntnis, oder aber im Sinne der praktischen Vernunft als Bekenntnis verstanden wurde.
Repräsentativ für eine Bestimmung der Bedeutung des Begriffs Weltanschauung im Sinne der theoretischen Vernunft ist Rudolf Eislers (erstmals 1899 erschienenes) Wörterbuch der philosophischen Begriffe, wo es in der dritten Auflage aus dem Jahre 1910 heißt: “Ein philosophisches System ist die Vereinigung allgemeiner Erkenntnisse zur Einheit einer Weltanschauung.” Die werthaft-präskriptive Ebene bleibt ausgeklammert. Beispielhaft für die Bestimmung der Bedeutung dieses Begriffs im Sinne der praktischen Vernunft wiederum sind Hegels Ausführungen über “Die moralische Weltanschauung” in der Phänomenologie des Geistes (1807) oder – mehr als 120 Jahre später – Theodor Litts Hinweise auf “Lebensfragen, denen nur in einer Weltanschauung Antwort werden kann”. (LITT, 1928, S. 76) Auch in den so genannten politischen Weltanschauungsparteien dominiert im Allgemeinen ein Verständnis von Weltanschauung im Sinne von praktischen Lebensfragen und von darauf gegebenen Antworten zur individuellen und kollektiven Lebensführung. Allerdings ist der Anspruch jener Parteien in der Regel umfassender und schließt auch Lehren ein, die sich auf bestimmte den Menschen, die Gesellschaft und die Natur betreffende Inhalte theoretischer Art beziehen. So handelt es sich bei ihnen um Weltanschauungen im Sinne von “Gesamtdeutungen”,5 die verschiedentlich an die Stelle umfassender älterer metaphysischer Weltdeutungen traten. Gelegentlich wurden sie auch in diesem definiert, wie beispielsweise von Paul Thormeyer in seinem Philosophischen Wörterbuch: “Weltanschauung (= metaphysisches System) ist ein durch einheitliche Zusammenfassung alles Wissens und abschließende Betrachtung gewonnenes Gesamtbild von der Welt.” (THORMEYER, 1922). 6 Bei diffusen Ganzheitsvorstellungen dieser Art setzten Wilhelm Diltheys Analysen in seiner “Weltanschauungslehre” an, mit welchen er das theoretischpraktische Amalgam der herkömmlichen einschlägigen Auffassungen zu systematisieren suchte, und die ein einer wirkungsgeschichtlich höchst bedeutsamen Typologie der Weltanschauungen ihren Ausdruck fanden.
Weltanschauung als Erkenntnisinteresse
Diltheys Typen der Weltanschauungen
Für Dilthey ist die Welt ein in unterschiedlichen Erlebnissen zugänglicher Sachverhalt, obschon ihm, wie bereits Kant, die Idee einer Einheit des darauf bezogenen Wissens als ein regulatives Prinzip der Erkenntnis galt. Diese Einheit des Wissens war für ihn aber nicht verbürgt durch ein “Ding an sich”, sondern durch die Anthropologie, aus der heraus die verschiedenen perspektivischen Formen der Welterfahrung als “Typen der Weltanschauung” verständlich gemacht werden sollten. Die “Menschennatur”, wie sie sich im realen Lebensprozess zeigt, habe, wie Dilthey bereits in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften sagt, “am Wollen, Fühlen und Vorstellen nur seine verschiedenen Seiten”. (DILTHEY, 1973, S. XVIII). So konzipiert er
- den “Naturalismus” als den positivistischen Ansatz vom Verstand her, wie er exemplarisch von Demokrit und Hobbes vertreten und durch die verschiedenen Sparten der Naturwissenschaften praktiziert wird;
- den “objektiven Idealismus” als den kontemplativen Ansatz vom Gefühl her, wie er etwa von Heraklit, Leibniz, Hegel und Goethe repräsentiert wird und sich in einer harmonisierenden Religion oder einer gleichartigen, am besten wohl als apollinisch zu bezeichnenden künstlerischen Weltbetrachtung ausdrückt;
- den “Idealismus der Freiheit” als den aktivistischen Ansatz vom Willen her, wie er uns beispielsweise im Schrifttum von Plato und Kant begegnet und wie er im ethischen, juristischen und politischen Denken und Handeln Ausdruck findet. 7
Dilthey befindet sich damit sowohl in der Tradition von David Hume, dessen Treatise of Human Nature bekanntlich aus den drei Büchern “Of the Understanding”, “Of the Passions” sowie “Of Morals” besteht, als auch in der von Immanuel Kant und seinen drei Kritiken, die in gewisser Hinsicht jenem dreigliedrigen Aufbau von Humes Schlüsselwerk entsprechen.
In der Anthropologie als der Selbsterkenntnis des Menschen liegt also nach Dilthey der Grund für die drei von ihm in seiner Weltanschauungslehre dargelegten Erkenntnisorientierungen. 8 Für ihn stand fest, dass jede Vereinseitigung einer dieser drei Weltanschauungs-Orientierungen im Sinne des für sie reklamierten besonderen Geltungsanspruchs zu einer dogmatischen Metaphysik führt. Es ginge darum, zu zeigen, dass sich Einsichten, welche in einem der von Dilthey genannten Bereiche der “geistigen Welt” – in den Naturwissenschaften, in Kunst und der Religion, in Ethik und der Politik – entstanden, zu Irrtümern werden, sobald man sie verabsolutiert und auf kategorial andersartige Sachbereiche überträgt. Notwendigerweise ist nach Dilthey jede Weltanschauung einseitig; es ist uns, wie er ausführt, versagt, diese Seiten zusammenzuschauen: “Das reine Licht der Wahrheit ist nur in verschieden gebrochenem Strahl für uns zu erblicken.” (DILTHEY, VIII 1977, S. 224)
Vieles als “Ideologie” Bezeichnete ist bekanntlich durch eine solche Verabsolutierung von Prinzipien entstanden, welche innerhalb eines bestimmten Teilgebietes ihre unbestreitbare Gültigkeit haben, dann aber auf ihnen nicht gemäße Gegenstandsbereiche zur Anwendung gebracht wurden. 9 Dazu einiges noch im Folgenden.
Zur Wirkungsgeschichte von Diltheys Typologie der Weltanschauungen
Auch das Werk eines Philosophen wird im Allgemeinen nicht nur dadurch bestimmt, was es für sich genommen ist, sondern auch durch das, was es auf dem Wege der Rezeption bewirkt hat. Diltheys Schrifttum zur Weltanschauungsanalyse kommt in diesem Zusammenhang ein exemplarischer Charakter zu. Schon früh – erstmals im Jahre 1908 – untersuchte Herman Nohl in einer Dilthey verwandten Absicht den Zusammenhang von Malerei, Kunststil und Weltanschauung. 10 (NOHL, 1908; NOHL, 1920) Karl Mannheim hat dann 1923 Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation (MANNHEIM, 1923; MANNHEIM, 1964) verfasst, in denen er auf Diltheys Studie “Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen” (1911) und auch auf Nohls Stil und Weltanschauung (1920) Bezug nimmt. Aber bereits 1919 erschien die Monographie Psychologie der Weltanschauungen von Karl Jaspers, (JASPERS, 1919; JASPERS, 1971) die vor allem bei Psychologen und Kulturphilosophen auf große Resonanz stieß. Ein halbes Jahrhundert nach Jaspers hat Ernst Topitsch seine “Weltanschauungsanalyse” unter wiederholter Bezugnahme auf Dilthey entwickelt; (TOPITSCH, 1972) auf sie wird später noch kurz Bezug genommen werden.
Jede Komparatistik hat von bestimmten Klassifikationen und Typenbildungen auszugehen, um einerseits Konstantes im Wandel, andererseits auch Gleichförmiges im Verschiedenartigen nachweisen zu können. Max Scheler hat in dieser Absicht im Anschluss an Dilthey typologische Bestrebungen verfolgt, so zunächst in seiner 1922 erschienenen Abhandlung “Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung”. 11 (SCHELER, 1963). Mit ihr legte er eine allgemeine Typologie von Weltanschauungen vor, auf die drei Jahre später seine berühmt
gewordene Unterscheidung von drei “Wissensformen”– von “Erlösungs-“, “Bildungs-” und “Herrschafts”- oder “Leistungswissen” – folgte, 12 (SCHELER, 1960, S. 15-190, 191-382) mit welcher Unterscheidung Scheler die von “emanzipatorischem”, “praktischem” und “technischem Erkenntnisinteresse” bei Jürgen Habermas 13 vorwegnahm. Diese Wissensformen bzw. Erkenntnisinteressen sind Diltheys Weltanschauungstypen ähnlich: dem “Idealismus der Freiheit”, dem “objektiven Idealismus” und dem “Naturalismus”.
Unter Bezugnahme insbesondere auf den seinerseits unmittelbar von Dilthey beeinflussten Eduard Spranger und dessen als Monographie erstmals 1921 publiziertes Werk Lebensformen hat im Hans Leisegang im Jahr 1928 sein Buch Denkformen veröffentlicht. Mit seiner Unterscheidung von drei Typen der Weltanschauung und mit der Kritik an der monistischen Vereinseitigung derselben kommt Leisegang Diltheys Intentionen sehr nahe. 14
Weltanschauung als politische und als wissenschaftliche Orientierung
Zur Herausbildung und zum Wissenschaftlichkeitsanspruch
der sogenannten Weltanschauungsparteien
Wenn, wie beispielsweise bei Max Weber, von „Weltanschauungsparteien“ die Rede ist, so sind darunter gesinnungspolitische Organisationen gemeint, „welche […] der Durchsetzung inhaltlicher politischer Ideale dienen wollen“. (WEBER, 1972, S. 839) 15 Die Proponenten einiger dieser Parteien verstanden sich dabei nicht allein als Vertreter bestimmter normativer Orientierungen, vielmehr sollten diese Orientierungen selbst wissenschaftlich begründet sein. Diese Art der Verwissenschaftlichung der Politik, die etwa in der Weltanschauung des „wissenschaftlichen Sozialismus“ – im Unterschied zum bloß utopischen oder ethischen – bei Friedrich Engels ihre spezifischeAusprägung erfahren hat, geht ideengeschichtlich vor allem auf das Gedankengut der Saint-Simonisten zurück.
Saint-Simon wandte sich, wie auch sein später mit ihm zerstrittener Sekretär Auguste Comte, gegen das, was dieser als „revolutionäre Metaphysik“ bezeichnete, nämlich ein Denken in den Kategorien des bloß Möglichen: gegen die reine Utopie der in der Großen Revolution von den sogenannten „Freunden des Volkes“ dekretierten Ideen von Mensch und Welt. 16
Nach Ansicht der frühen Positivisten sollte unter ihrer Ägide der Ausgang aus dem utopischen Reich des Möglichen in die wissenschaftlich abgesicherteWelt des Wirklichen erfolgen – und doch machte sich auch unter ihnen eine erstaunliche Einseitigkeit geltend. Sie bestand darin, die Methode der empirischen Wissenschaft weit über das Gebiet hinaus auszudehnen, auf das sie vernünftig anwendbar ist. Comtes im Jahre 1824 erschienenes System der positiven Politik und die in diesem Buch dargelegte neue Wissenschaft der Sozialphysik (physique sociale) wollte dazu dienlich sein, die natürlichen und unausweichlichen Gesetze des kulturellen Fortschritts aufzudecken. In dem nun angebrochenen, von der Erfahrungswissenschaft geleiteten Zeitalter, in dem, wie schon Saint-Simon verkündet hatte, letztlich die „Herrschaft über Menschen“ durch die „Verwaltung von Sachen“ ersetzt werde, komme es nach Comte darauf an, jedem Einzelnen und jeder Nation jene wissenschaftlich bestimmbare Tätigkeit zuzuweisen, für die sie geeignet sind. Die moralische Ordnung sei durch ein System der Ideen und Gebräuche sicherzustellen, das notwendig sei, um die Einzelnen in die soziale Ordnung einzuführen, unter der sie im Geiste des Positivismus ihr Leben gestalten. John Stuart Mill, der zwei Jahrzehnte lang unter dem Einfluss von Comtes Ideen stand, wurde durch diese Ansichten zur Konversion veranlasst; er sprach von ihnen als dem „vollständigsten System eines geistlichen und weltlichen Despotismus, das jemals – vielleicht mit Ausnahme desjenigen von Ignatius von Loyola – einem menschlichen Gehirn entsprungen ist“. (MILL, 1873, S. 213). 17 Der Erfolg der Lehren von Saint-Simon und Comte war dennoch beträchtlich; ihr Einfluss erstreckte sich unter anderem auf so bedeutsame Politiker wie Louis-Auguste Blanqui, den Vorläufer von Lenins Theorie der Avantgarde-Partei, 18 auf Étienne Cabet sowie Friedrich Engels, aber auch auf so namhafte Gelehrte wie Pierre Leroux, Frédéric Le Play und Adolphe Quételet.
Von besonderer Wirkung auf Seiten der politischen Linken waren bekanntlich die sich auf Erkenntnissen der politischen Ökonomie berufenden Lehren des Marxismus-Leninismus; ihr antagonistisches Pendant hatten sie im politisch rechten Lager vor allem in Gestalt der Doktrinen eines biologisch argumentierenden Sozialdarwinismus. Arthur Schnitzler stellte in seinem Roman Der Weg ins Freie im Blick auf die verschiedenen Parteigänger fest, dass bei ihnen „Weltanschauung nichts als eine höhere Art von Gesinnungstüchtigkeit“ sei. 19 Für sie war, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, das charakteristisch, was Max Weber als das „Zusammenzwingen“ der Sphäre der „Geltung eines praktischen Imperativs als Norm“ und jener der „Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung“ kritisierte, wodurch der spezifischen Dignität jeder von beiden Abbruch getan werde. (WEBER, 1968, S. 501). Die letzten Werte unseres Handelns in einer Wissenschaft zu fundieren oder den Sinn des Weltgeschehens aus dem Ergebnis einer empirischen Durchforschung ablesen zu wollen, erschien ihm widersinnig. Es sei das „Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat […], wissen zu müssen, daß ‘Weltanschauungen’ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren.“ (WEBER, 1968, S. 154). 20 Hans Kelsens Demokratietheorie schließt hier an, zumal für ihn die große Frage lautet, „ob es eine Erkenntnis absoluter Wahrheit, eine Einsicht in absolute Werte gibt.“ Er kontrastiert dann diese absolutistische Erkenntnis- und Wertlehre mit der des „Kritizismus und des Positivismus, sofern man darunter jene Richtung der Philosophie und Wissenschaft versteht, die vom Positiven, das heißt vom Gegebenen, Erfassbaren, von der wandelbaren und stets sich wandelnden Erfahrung ausgeht […]“. „Diesem Gegensatz der Weltanschauungen“, so fügt Kelsen ergänzend hinzu, „entspricht der Gegensatz der Wertanschauungen, speziell der politischen Grundeinstellung. Der metaphysisch-absolutistischen Weltanschauung ist eine autokratische, der kritisch-relativistischen die demokratische Haltung zugeordnet.“ (Kelsen, 1929, S. 100 f.) Von einem wissenschaftlich abgesicherten ultimativen Konsens im Blick auf die Inhalte der Politik ist bei Kelsen an keiner Stelle die Rede, vielmehr verlagert sich die Konsensforderung von der Ebene der politischen Ziele auf die der Verfahren zur Austragung von Konflikten über diese.
Der Anspruch auf Einheit der Wissenschaft und die Vielfalt
der “Sprachspiele”
Die Emphase, die auf dem Ausdruck “Wirklichkeit” liegt, führte in der Geschichte des philosophischen Denkens der Neuzeit dazu, bestimmte “Erscheinungen” als eine Realität von zweitrangiger Bedeutung anzusehen und nur Beschreibungen und Erklärungen echten Erkenntniswert zuzusprechen, die im Sinne des mos geometricus, des geometrischen Denkstils, formuliert sind. Dagegen bezog bereits Blaise Pascal Stellung. Nach ihm besteht bekanntlich im Denken zwar alle Würde des Menschen, wie er in den Pensées ausführt, aber es umfasst nach ihm nicht allein den Bereich des Verstandes, sondern auch die durch Gefühl und Willen mitbestimmte Vernunft. sei. Und so spricht Pascal bekanntlich von einer “Logik des Herzens”, und findet, das Herz habe Gründe, die der Verstand nicht kennt. (PASCAL, 1840).
Die Philosophen des Wiener Kreises vertraten in ihrer Mehrheit eine von derartigen Ideen abweichende philosophische Position. Obwohl sich etwa Moritz Schlick, Karl Menger und Victor Kraft mit Fragen der Moralphilosophie und der wissenschaftlichen Wertlehre beschäftigt hatten und sich Bela Juhos als ein später Vertreter dieser Richtung in seinem Buch Das Wertgeschehen und seine Erfassung intensiv mit Fragen einer von der Logik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis unterschiedenen geisteswissenschaftlichen Methodologie beschäftigte, (JUHOS, 1956) dominierte im Logischen Empirismus der naturwissenschaftliche Denkstil; und dies nicht nur in Bezug auf die rechtfertigungslogischen, sondern insbesondere auch auf die heuristischen und forschungstechnischen Verfahren. (Siehe dazu exemplarisch STADLER, 1982) Wissenschaftssoziologisch betrachtet ist das Selbstverständnis der Vertreter des Logischen Empirismus, Proponenten einer „wissenschaftlichen Philosophie“, ja einer „wissenschaftlichen Weltauffassung“ zu sein, vor allem erklärbar unter Hinweis auf die in Anbetracht der schon seit der Zeit um 1900 brüchig gewordenen Kriteriologie der nicht-naturwissenschaftlichen Fächer. Halt im Sinne von Erkenntnissicherheit schienen die logischen und empirischen Überprüfungsverfahren zu bieten, wie sie im Bereich der Formal- und Naturwissenschaften entwickelt worden waren. 21
Doch wie schon Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert und Max Weber gegenüber dem methodologischen Naturalismus gewisser ihrer in den Kulturwissenschaften tätigen Kollegen Kritik übten, so auch nun Philosophen und andere Kulturwissenschaftler gegenüber dem Neopositivismus. Nicht die Form der durch Forschungstechniken und Methoden verbürgten Sicherheit für sich genommen erschien ihnen als das Entscheidende, sondern das, worüber wir jeweils Sicherheit suchen. Die Wahrheit über den jeweils in Betracht stehenden Forschungsgegenstand zu gewinnen, sei das Ziel, nach dem sich die wissenschaftliche Methode als der Weg dorthin zu richten habe. Daher sei auch die Frage nach einem Methodenkanon der Wissenschaften, wie er der neopositivistischen Idee der „Einheitswissenschaft“ zugrunde lag, der Frage nach der Wahrheit nachgeordnet.
Der namhafteste Kritiker einer solchen philosophischen Orientierung der „wissenschaftlichen Weltauffassung“ mit ihren im Sinne einer „Einheitswissenschaft“ universalisierten Wahrheitskriterien war Ludwig Wittgenstein. Gegen die logischen Empiristen des Wiener Kreises, die als Realisten der Ansicht waren, es gebe eine erfahrbare Welt, die unabhängig von den menschlichen Überzeugungen und Sprachgewohnheiten bestehe, vertrat er die antirealistische Auffassung. Alle Erkenntnis, auch die der Naturwissenschaften bzw. der durch sie festgestellten Tatsachen sei eingeschmolzen in unsere Sprachspiele (language games) und habe dort ihre Grundlage. Die Sprachspiele konstituieren jenen Bezugsrahmen (frame of reference), innerhalb dessen jeweils die Wahrheit von Aussagen feststellbar ist. (WITTGENSTEIN, 1977; WITTGENSTEIN, 1969) Sie selbst ruhen nicht abermals auf einer tieferen Erkenntnisgrundlage auf. Zwischen den Sprachspielen der Wissenschaft, der Magie, der Kunst etc. Hierarchien der Rationalität zu bilden sei ein Unding. Sprachspiele können nicht im Vergleich als vernünftiger oder unvernünftiger, rationaler oder irrationaler angesehen werden – sie seien, wie Wittgenstein sagt, einfach da wie unser Leben. Und so ist es für ihn auch naheliegend, die Idee der Wahrheit und der Gewissheit mit dem Begriff des Gesellschaftlichen, oder genauer: der Lebensform (form of life) zu verbinden. 22
Wittgensteins Spätphilosophie läuft wie Diltheys Weltanschauungsanalyse auf eine Pluralität von Anschauungen der Welt hinaus, aber auch von dem, was uns in der Anschauung Gegenstand der Betrachtung wird. Wie für Dilthey wäre es auch für Wittgenstein nur schlechte Metaphysik, wollte man der Kunst, dem Recht, der Ethik Erkenntnisfunktionen einfach deshalb absprechen, weil sie weder reine Formal- noch Naturwissenschaften sind. Seine frühen Auffassungen über die Prinzipien der Wissenschaft, wie er sie im Tractatus entwickelt hatte, wurden später in die Idee von Regeln umgewandelt, welche verschiedene Sprachspiele beherrschen. Die Bilder, die wir uns auf ihrer Grundlage von der Natur und der Gesellschaft machen, seien ein Produkt unserer Gesellschaft, weil unserer Lebensform. Aber: Gesellschaft und Lebensform – modelliert in welcher Art von „Bezugsrahmen“ – in einem oder in mehreren? Und wenn mehrere möglich sind: Welche Lebensform ist wiederum für das Urteil konstitutiv, dass dieser und nicht ein anderer Bezugsrahmen der zutreffende ist? So scheinen Wittgensteins Überlegungen eher eine Forschungsrichtung anzuzeigen, als dass sie uns schon den Weg gewiesen hätten.
Echte Erkenntnisse als rational gerechtfertigte Kenntnisse müssen, wie man annehmen muss, in Eigenschaften der Welt begründet sein, in welcher wir als Beobachter und Analytiker einen bestimmten Platz einnehmen, und nicht allein im Charakter und in den sozialen Verkehrsformen von Menschen, denen eine solche Rechtfertigung als gültig oder ungültig erscheint. Es scheint, dass wir hier unversehens mit einem infiniten Regress konfrontiert sind, wie er mit der Selbstanwendung des soziologischen Relativismus verbunden ist. Roger Trigg charakterisiert ihn folgendermaßen: “If science is socially constructed, so is social theory, and our theory of social theory and so on. Only if there are causal connections, as opposed to mere beliefs projecting them, can any social constructivist thesis gain a purchase on the real world.” (TRIGG, 1993, S. 168) Die Bindung der Methode an die inhaltlichen Merkmale des jeweiligen Bezugsrahmens sowie an die ihm korrespondierende Lebensform führt, so scheint es, dazu, dass die Methode jene Inhalte letztlich auch bestätigen muss, mit denen sie sich ursprünglich verbunden hat. 23
Dieser Dominanz des Prozeduralen gegenüber dem Resultat, dem Anschauen gegenüber dem Angeschauten, der Frage gegenüber der Antwort, die heute unter anderem in der inflatorischen Rede vom „Entwurf“, vom „Erfinden“ und von „Projekten“ zum Ausdruck kommt, entspricht auch das mitunter geradezu manische Diskursivieren in philosophicis. Der diskursiv hergestellte Konsens gilt bekanntlich verschiedenen deutschen Philosophen als Quelle und Garant der normativen Geltung, und damit als Grundlage der (lebens)praktischen Weltanschauung. 24 Damit scheint die alte Hoffnung verbunden zu sein, wonach das Eine – im Sinne des Geeinigten und Einheitlichen – und das Wahre austauschbar sind; auch Voltaire hat einer besonderen Variante des Prinzips unum et verum convertuntur gehuldigt,wenn er meinte: „Es gibt nur eine Moral, wie es nur eine Geometrie gibt.“ (VOLTAIRE, 1994). Die Herstellung des Konsenses ist gleichwohl an bestimmte Vorbedingungen gebunden, die einer „bloß“ empirischen Geltung der durch ihn statuierten Normen vorbeugen sollen: an die „Herrschaftslosigkeit“ des Diskurses, an die Beteiligung aller von der Anwendung der Normen Betroffenen, an deren rationale Kompetenz sowie an deren gute oder wohlwollende Gesinnung. Den nicht Konsentierenden einen Mangel an Kompetenz oder hinreichend guter Gesinnung vorzuwerfen erschien daher immer wieder als ein probates Mittel der Konsenssicherung. Schon Voltaire stellte die von der „Vernunft“ Abweichenden vorwurfsvoll vor die Alternative fou ou fripon – Narr oder Betrüger. 25 Zudem mutet eine solche der Konsensfindung vorausgehende Einigung bezüglich der Art und Weise, wie man Diskurse über Tatsachen zu führen und nicht gleich über die Tatsachen selber zu sprechen hat, oft geradezu wie eine Form der diskursphilosophischen Selbstvergessenheit an. Diese geißelte einmal Robert Spaemann mit den Worten: „Konsens kann auf Irrtum beruhen. Dann kann er tödlich sein. Und ob er tödlich ist oder nicht, das wird durch Tatsachen entschieden und nicht durch Diskurse.“ (SPAEMANN, 1994, S. 257)
Mehrseitige Weltanschauung, selektive Wissenschaft, einseitige Ideologie
Im Englischen findet man für den Ausdruck „Weltanschauung“ nur vereinzelt die Lehnübersetzung „world view“; im Allgemeinen verwendet man hier dafür, wie etwa auch im Italienischen und im Französischen, die Bezeichnungen „ideology“ bzw. „ideologia“ und „idéologie“. Auch im Deutschen findet sich mitunter eine Gleichsetzung der Ausdrücke „Weltanschauung“ und „Ideologie“. Der von dieser neutralen Verwendungsweise mehrheitlich abweichende Gebrauch des Wortes „Ideologie“ nötigt zu einer differenzierteren Betrachtung, wodurch sich wiederum auch einige neue Seiten des Bedeutungsspektrums des Begriffs der Weltanschauung erschließen.
Die wissenschaftliche Segmentierung der Welt und die
ideologische Festlegung auf bestimmte erklärende Variablen
Die Begründung des Wissens erfolgte in der Epoche der Säkularisierung nicht mehr unter Bezugnahme auf eine transzendente Autorität, sondern auf einen Faktor innerhalb der Welt, von dem man meinte, er besitze einen stärkeren Anspruch auf unsere Loyalität: auf die Rasse, die Klasse, die Evolution oder die Triebe. In dieser Art zu denken hat, wie Niklas Luhmann gezeigt hat, (Luhmann, 1976) eine bestimmte Variante von Ideologie ihren Ursprung. Diese nimmt das unbefangene Denken und Erleben nicht mehr ernst, oder jedenfalls nicht mehr zum alltäglichen “Nennwert”, sondern sucht nach einem dahinterliegenden “Realwert”, indem sie es als Wirkung von Ursachen außerhalb des bewussten Erlebens erklärt. Ideologisches Denken ist in diesem Sinne ein reduktionistisches Denken, durch welches die vermeintlich originären Tatsachen des menschlichen Bewusstseins und Handelns auf ihr “wahres” Sein zurückgeführt werden sollen. Dazu bemerkt Luhmann: “An dieser Stelle hat Marx seinen geschichtlichen Ort. Er arbeitet mit solchen destruierenden Kausalerklärungen. Ihnen verdankt er seine polemische Wucht. Ganz ähnlich verfahren andere Denker. Durkheim und die von ihm angeregte französische Wissenssoziologie leiten die Ideenwelten einschließlich ihrer Logiken aus den sozialen Verhältnissen einer Gesellschaft ab; Darwin bezieht den Sinn des Verhaltens auf seine Funktion für das biologische Überleben, Freud auf seine Funktion für die Befriedigung ursprünglicher oder verdrängter Libido, Veblen auf seine Funktion für die Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialem Ansehen. Der gemeinte Sinn des Handelns wird durch solche Erklärungen zu einer vordergründigen ‘Rationalisierung’ der eigentlichen Motive.” (Luhmann, 1976 S. 38)
Diese Art der „Dekonstruktion“ von Alltagswissen durch Hinweis auf eine bestimmte von der Wissenschaft aufgedeckte, „tiefer“ liegende Schicht relativiert das Gewicht des ursprünglichen Erfahrungsinhalts. Zur Ideologie werden solche wissenschaftlichen Weltauffassungen, sobald ihren Proponenten das Bewusstsein dafür abhanden kommt, dass es sich hier um eine einseitige Auszeichnung von bestimmten Wirklichkeitselementen oder Faktoren innerhalb eines umfänglicheren Phänomenbestandes handelt. Dann kommt auch jene Warnung zum Tragen, die – wenn auch ohne Angabe entsprechender Quellen – immer wieder Alexander von Humboldt in den Mund gelegt wird: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.“ Das Erfordernis, im Gefüge von Bedingungen, die unser individuelles und kollektives Leben beeinflussen und in gewissem Maße steuern, Hauptursachen zu erkennen und aus ihm herauszuarbeiten, verführte immer wieder zu monokausalem Denken. Die Auszeichnung ganz bestimmter Bedingungen oder Variablen bildete dann die Leitidee der jeweils am Werk befindlichen „wissenschaftlichenWeltanschauung“.
Exemplarisch für das hier Gemeinte ist der vor allem seit den 1960er Jahren wieder heftig entbrannte Streit zwischen Milieutheoretikern (Environmentalisten) und Nativisten (Genetizisten). Vertraten Nativisten die Ansicht, das Verhalten der Menschen werde so gut wie zur Gänze durch ihre Erbanlagen bedingt, so verallgemeinerten die Vertreter der Milieutheorie den Einfluss, den Kultur und soziale Umwelt auf uns ausüben, zur Behauptung, unser Verhalten würde so gut wie ausschließlich durch unser kulturelles und soziales Umfeld bestimmt. Im populären psychologischen Schrifttum bestimmten für Jahrzehnte milieutheoretische Vorstellungen die öffentliche Meinung. Eine eigentümliche Pendelbewegung setzte mit dem Triumph der modernen Molekularbiologie ein, insbesondere seit der erfolgreichen Sequenzierung des Humangenoms, die im April 2003 zum Abschluss gelangte. Eigentümlich deterministische Auffassungen schufen sich Gehör, wonach die Biologie unser „Schicksal“ sei. Karl Kraus hätte hier – angesichts des Pendelschlags von einer vornehmlich von Behavioristen und gewissen Marxisten vertretenen radikalen Milieutheorie zu einem radikalen Nativismus – vielleicht von der Ablösung eines konvexen Irrsinns durch einen konkaven gesprochen.
Heute wird kaum mehr jemand der von John B. Watson in seinem Buch Behaviourism (1926) geäußerten Aufforderung folgen: “Give me a dozen healthy infants, well-formed, and my own specified world to bring them up and I’ll guarantee to take any one at random and train him to become any type of specialist I might select – doctor, lawyer, artist, merchant-chief and, yes, even beggar-man and thief, – regardless of his talents, penchants, tendencies, abilities, vocation, and race of his ancestors.” (WATSON, 1930, S. 104). Heute vertreten aber noch immer nicht wenige die der Ansicht Watsons entgegengesetzte Ansicht, dass wir Sklaven unserer Gene sind. Mittlerweile ist jedoch klar geworden, dass die Annahme des genetischen Determinismus nicht haltbar ist. Einerseits gilt, dass ein menschliches Merkmal oft das Resultat vieler Gene ist, wie umgekehrt mehrere Merkmale durch ein einziges Gen gesteuert werden können, andererseits sind Gene nicht unabänderlich, sondern können sich, wie die Forschungen zur Epigenetik zeigen, als Antwort auf die Umwelt oder unseren Lebenswandel verändern. (SCHATZ, 2012, S. 108).
Dieses Beispiel aus der jüngsten Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass von der modernen Molekularbiologie erarbeitete Wissensinhalte ein dogmatisches Festhalten weder am klassischen Behaviorismus noch am orthodoxen Genetizismus als den vermeintlich wissenschaftlich gestützten anthropologischen Komponenten unserer Weltanschauung zulassen. Monokausale Theorien haben sich in der Biologie als unhaltbar erwiesen, und hier, wie auch anderswo, war der Erfolg letztlich jenen beschieden, die die Ursachen sorgfältig suchten und nicht einfach nur postulierten
Zum pejorativen Verständnis von Ideologie: Ideologie als
defizientes Wissen
Zwei Denkweisen sind es neben der soeben erörterten Kritik an der apriorischen Festlegung auf bestimmte erklärende Variablen, die Gegenstand der Ideologiekritik wurden: die Kritik an dem Zurückbleiben von Beschreibungen, Deutungen und Erklärungen der gesellschaftlichgeschichtlichen Welt hinter dem bereits aktualisierbaren Wissensstand (a), und dann, damit in gewisser Weise zusammenhängend, die Konfundierung von Erkenntnisinhalten mit Wertbekenntnissen, wodurch jene verfälscht werden (b).
Zur ideologischen Retardierung von Weltanschauungen
Bei den um eine ganzheitliche Weltdeutung bemühten religiösen und metaphysischen Weltanschauungen wie bei verschiedenen ihrer politischen Ersatzbildungen handelt es sich – in den Worten von Ernst Topitsch – um „plurifunktionale Führungssysteme“, in denen Informationsvermittlung, Handlungssteuerung und emotionale Wirkung weithin ungeschieden sind. (Siehe dazu TOPITSCH, 1988) Sie sind gewissermaßen emotional getönte Weltdeutungen mit eingebauter Gebrauchsanleitung. Für Topitsch, der sich in seinem Schrifttum immer wieder auch den phylogenetischen und emotionalen Grundlagen menschlicher Weltauffassung zugewandt hat, (Siehe dazu TOPITSCH, 1996) bildet den Ausgangs- und Schlüsselpunkt der Analyse von Weltanschauungen die langsame Verselbstständigung des Erkennens gegenüber den anderen Formen unserer Weltauffassung: den normativen und emotional-werthaften Funktionen. Wie er ausführt, erweitert das allmählich wachsende Wissen um Tatsachen und ihre Wechselbeziehungen „zunächst seinen autonomen Bereich im Rahmen der plurifunktionalen Führungssysteme, bis es diesen schließlich sprengt. Dann treten die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Sein und Sollen, Tatsachenaussage und Werturteil hervor. Damit wird aber auch jene vermeintliche Einheit von Erklärung und werthaft-normativer Deutung des Universums unhaltbar, die das menschliche Denken so lange Zeit hindurch nahezu unangefochten beherrscht hatte.“ (TOPITSCH, 1988, S. 10).
Dennoch wird im Falle von Weltanschauungen oft für alle ihre Komponenten „Wahrheit“ in einem emphatischen Sinn behauptet. Aus dem Bestreben um Homogenisierung ihrer Inhalte heraus wird erst gar nicht der unterschiedliche logische Status ihrer einzelnen Komponenten in Betracht gezogen: eine Differenzierung der Wahrheit von Informationen, der Richtigkeit (Zweckmäßigkeit) von Handlungen und der Angemessenheit von Emotionen unterbleibt vielfach zugunsten der Beschwörung der „Ganzheit“ der Weltanschauung und des zwischen ihren Komponenten bestehenden „dialektischen“ Zusammenhangs. Die “Ganzheit” hat dabei ihren Vorstellungsund Begriffsinhalt weitgehend eingebüßt und ist zu einem Wortzeichen geworden, das keine intellektuellen Funktionen, sondern nur mehr Gefühle auslöst – und nicht einmal bestimmte Gefühle, die sich auf konkrete Gegenstände beziehen, sondern eher vage und damit solche, deren Auslegung dem Belieben des jeweiligen Lesers oder Hörers überlassen blieb. (TOPITSCH, 1960). Die sich auf solche Ganzheiten berufenden oder sogar auf ihnen beruhenden Weltanschauungen fallen damit hinter das Erkenntnismögliche zurück und in dieser Retardierung werden sie zur Ideologie. Diese Ansicht bezüglich des unzeitgemäßen, weil bereits überholten Bewusstseinszustands von Ideologien teilt Topitsch mit dem noch zu erörternden Karl Mannheim.
Tatsachenaussagen, Werturteile und vorgefasste Meinungen
Mit dem von David Hume thematisierten und analysierten kategorialen Unterschied von Sein und Sollen wurde auch auf das Verhältnis und die Wechselbeziehungen zwischen subjektiven gefühls- und interessenbedingten Wertungen auf der einen, und objektiven theoretischen Erkenntnissen auf der anderen Seite aufmerksam gemacht. Zu einer Purifizierung von Wissenschaft sollte es, wie man meinte, dadurch kommen, dass als Tatsachenaussagen getarnte Wertungen aufgezeigt und so in ihrem Einfluss auf die wissenschaftliche Urteilsbildung neutralisiert wurden. Nach Theodor Geiger ist sogar jedes Werturteil eine ideologische Aussage, da es „ein subjektives Verhältnis des Sprechenden zu einem Gegenstand“ objektiviere und so „dieses Pseudo-Objektiv zum Aussagebestandteil eines Satzes von der Form einer theoretischen Sachaussage“ mache. (GEIGER, 1968, S. 5; Siehe auch GEIGER, 1962). Er findet, dass auch Kunstwerken jegliche Erkenntnisintention und Erkenntnisleistung abzusprechen sei. (GEIGER, 1949, S. 415).
Von der Auffassung Theodor Geigers deutlich abweichend hat es Joseph Schumpeter in einer Abhandlung mit dem Titel „Wissenschaft und Ideologie“ (SCHUMPETER, 1987) für wichtig befunden zu betonen, „daß wissenschaftliche Arbeit als solche von uns nicht verlangt, unsere Werturteile aufzugeben oder dem Geschäft eines Befürworters eines bestimmten Interesses zu entsagen.“ So könne jemand Anwalt eines bestimmten Interesses sein, aber dennoch redliche analytische Arbeit leisten, denn, wie er sagt, „das Motiv für den Beweis eines Arguments zugunsten des Interesses, dem er Gefolgschaft schuldet, beweist an sich überhaupt nichts für oder gegen die Qualität der analytischen Arbeit: Um es offener zu sagen, Parteinahme impliziert nicht die Lüge.“ (SCHUMPETER, 1987, S. 118). Andererseits lassen sich auch viele Beispiele dafür anführen, dass Ökonomen Behauptungen aufgestellt haben, für deren aus ihnen gezogene Schlussfolgerungen sie nicht die geringste Sympathie empfanden. Exemplarisch verweist Schumpeter auf die Ableitung der logischen Konsistenz der Bedingungen (Gleichungen), die eine sozialistische Ökonomie beschreiben. Von den meisten Menschen werde sie als Argument für den Sozialismus gewertet; sie sei jedoch von Enrico Barone vorgebracht worden, einem Mann, der alles eher als ein Parteigänger sozialistischer Ideale oder Gruppierungen gewesen ist. Daher sollte es nach Schumpeter in den Wirtschaftswissenschaften darum gehen, sich in höherem Maße als bisher den „vorgefaßten Meinungen über den ökonomischen Prozeß“ zuzuwenden, die für den wissenschaftlichen Charakter der einschlägigen Bemühungen oft viel gefährlicher, weil außerhalb der Kontrolle in einem Sinne sind, in dem dies Werturteile nicht sind. Obwohl mit diesen meist verbunden, würden diese vorgefassten Meinungen es verdienen, unter dem Namen „Ideologie“ von den Werturteilen getrennt erörtert zu werden. (SCHUMPETER, 1987, S. 119).
Ideologien sind nach Schumpeter „aufrichtige Aussagen über das, was jemand zu sehen glaubt“, wobei jeder sich selbst sieht, wie er sich zu sehen wünscht, samt einer schutzgewährenden Rechtfertigung seines Denkens und Handelns. (SCHUMPETER, 1987, S. 121). In der Ökonomik, so führt Schumpeter aus, bilde „unsere prä- und extraanalytische Vision des ökonomischen Prozesses und dessen, was daran – kausal oder teleologisch – von Bedeutung ist, den Ursprung der Ideologie“. Normalerweise werde diese Vision dann einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen und durch die Analyse entweder verifiziert oder verworfen, so dass das ideologische Element in gewissem Umfang verschwinde. (SCHUMPETER, 1987, S. 124). Doch der vorwissenschaftliche Akt, den Schumpeter als Vision bezeichnet, ist umfassender als das, was jeweils rationalisiert werden kann. So bleibe als Ergebnis nichts anderes als „die Feststellung, daß es irgendeine Ideologie immer geben wird […].“ Das sei aber kein Unglück. Nach Schumpeter hat diese Unvermeidlichkeit in der Natur des Verhältnisses von Vision, Ideologie und Wissenschaft ihren Grund: „Jener vorwissenschaftliche kognitive Akt, der der Ursprung unserer Ideologien ist, ist auch die Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten; ohne ihn ist kein neuer Anfang in einer Wissenschaft denkbar. Durch ihn bekommen wir neues Material für unsere wissenschaftlichen Bestrebungen und etwas zu formulieren, zu verteidigen und anzugreifen.“ (SCHUMPETER, 1987, S. 133).
Man könnte Schumpeters Auffassung auch folgendermaßen umschreiben: Der vorwissenschaftliche Akt der Weltanschauung – das, was er als „unsere prä- und extraanalytische Vision“ bezeichnet –, ist der psychische Bereich, dem unsere fixen Ideen oder „vorgefassten Meinungen“ entspringen. Diese können zum Gegenstand der Analyse werden, gleich wie jene Vision – diese aber immer nur in beschränktem Umfang. Denn in der selbst von einer „prä- und extraanalytischen Vision“ geleiteten Wissenschaft kann nicht alles erklärt oder bewiesen werden, da jeder Beweis von grundlegenden Annahmen abhängt, die als Voraussetzungen des Beweises nicht abermals vollständig bewiesen werden können.
Der Streit zwischen den Ideologien und die Weltanschauungsanalyse als Streitbeilegungsverfahren
Im Verlauf moralisch-politischer Konfrontationen und Kontroversen ist es immer wieder üblich gewesen, das Wort „Ideologie“ als eine Art „magische Formel zur Entwertung gegnerischer Behauptungen“ (GEIGER, 1968, S. 5) anzusehen. In verschiedener Hinsicht an Marx anknüpfend hat so etwa Werner Hofmann jenes Wort in negativer Bedeutung verwendet: „Ideologien sind unzutreffende Auffassungen und Aussagen, an deren Entstehen, Verbreitung und Bewahrung sich gesellschaftliche Interessen […] knüpfen.“ (HOFMANN, 1968, S. 55).
Eine Einstellungsänderung gegenüber Ideologien und einer allein auf die Weltanschauung des politischen Gegners abzielenden Ideologiekritik nahm Karl Mannheim in seinem Buch Ideologie und Utopie vor. Im Blick auf die Weltanschauungen des Konservativismus, des Sozialismus und des Liberalismus suchte er zugleich mit deren Grundmerkmalen ihre soziogenetischen Ursprünge aufzudecken. Dies geschah in der Absicht, den antinomischen Charakter der politischen Ideen und Interessen rational zu deuten und ursächlich zu erklären, um auf diese Weise den Kontrahenten in der politischen Arena den jeweiligen Gegner in seinem Denken, Fühlen und Handeln verstehbar zu machen. So wie Wittgensteins „Sprachspiele“ – zum Beispiel die Religion und die Wissenschaft – ihren angeblich völlig „inkommensurablen“ Charakter in gewissem Umfang verlieren, sobald sie auf uns wechselseitig verständliche lebenspraktische Verhältnisse bezogen werden, aus denen sie entsprungen sind, sei es nach Mannheim auch in Bezug auf die zueinander antinomischen Ideologien oder politischen Weltanschauungen möglich, sie ihren Proponenten wechselseitig verständlich zu machen. Nach Mannheim sollte eine Weltanschauungstypologie in praktischer Absicht erfolgen und damit anderes sein als das, wofür sie beispielsweise Odo Marquard hält: für „emeritierte Antinomien“. (MARQUARD, 1982, S. 120).
Mit dem in seinem Buch Ideologie und Utopie entwickelten “Relationismus” trägt Mannheim den historisch-sozial wandelbaren Bedingungen unserer Weltanschauungen Rechnung. Sie alle sind in Relation zu bestimmten sozialen Lebensformen zu sehen und zu interpretieren. Viele geistige Produkte und Handlungen sind entweder als “Ideologie” oder als “Utopie” zu verstehen. Bringen nach Mannheim die „Utopien“ eine Zukunftsorientierung des Denkens und Handelns zum Ausdruck, so die „Ideologien“ einen überholten Bewusstseinszustand; sie tragen das Merkmal des schlechten Unzeitgemäßen, des Zurückgebliebenen. Der Ausdruck “Ideologie” wird nun von Mannheim als „partikular“ bezeichnet, wenn er sich auf einzelne Ideen bezieht, die dem „Sein“ der diese Ideen vertretenden Gruppe unangemessen sind; als „total“ wird der Begriff Ideologie bezeichnet, wenn die gesamte Gedankenwelt des Gegners unter dieses Urteil fällt: “Während der partikulare Ideologiebegriff nur einen Teil der Behauptungen des Gegners – und auch diese nur auf ihre Inhaltlichkeit hin – als Ideologien ansprechen will, stellt der totale Ideologiebegriff die gesamte Weltanschauung des Gegners (einschließlich der kategorialen Apparatur) in Frage und will auch die Kategorien vom Kollektivsubjekt her verstehen.” 26 traditionelles Eingelebtsein bestimmter Gehalte verdeckt wird, daß nämlich jeder historische Standort partikular ist.“ (MANNHEIM, 1929, S. 76.) Diese Auffassung wurde als „Panideologismus“ bezeichnet und in den 1930er Jahren einer zum Teil eminent heftigen Kritik unterzogen] (MANNHEIM, 1929, S. 54; Vgl. auch S. 228)
Mannheim unterscheidet sich von den Marxisten dadurch, dass er die “Seinsgebundenheit” des ideologischen Denkens zum Charakter alles sozialen Denkens erklärt und folgerichtig auch von den Marxisten verlangt, sich die Relativität ihres eigenen Denkens einzugestehen. Er bleibt aber dem Marxismus insofern verbunden, als er der Utopie, dem über die vorhandene Lebensordnung hinausstrebenden Wunschbild aufsteigender Klassen, eine besondere Bedeutsamkeit zuschreibt. Diese utopische Hoffnung ist allerdings für Mannheim nicht das Erzeugnis nur einer ganz bestimmten Klasse, weswegen es verschiedene Formen utopischen Denkens gebe. Dies hat nicht selten eine wechselseitige Paralysierung dieser Utopien zur Folge, und dennoch erfordert es nach Mannheim die Passion für das Denken, in der Wissenssoziologie jeder ideologischen Erstarrung einer Weltanschauung in Einseitigkeit vorzubeugen. Mannheim geht es nicht darum, die Perspektivität zu vertuschen und zu entschuldigen, sondern danach zu fragen, wie unter der Voraussetzung solcher Perspektivität Erkenntnis und Objektivität möglich sind: “Bei dem visuellen Bilde eines Raumgegenstandes ist es ja ebensowenig eine Fehlerquelle, daß der Raumgegenstand wesensmäßig nur perspektivisch gegeben sein kann, und das Problem besteht nicht darin, wie man ein unperspektivisches Bild zustande bringen könnte, sondern wie man vielmehr durch das Gegeneinanderhalten der verschiedenen Sichten das Perspektivische als solches zu sehen bekommt und damit eine neuartige Objektivität erreichen könnte.” (MANNHEIM, 1929, S. 255). Der wissenssoziologische Forschungsimpuls könne in der Folge so geleitet werden, “daß er nicht zur Verabsolutierung der Seinsverbundenheit führt, sondern daß gerade in der Entdeckung der Seinsverbundenheit der vorhandenen Einsichten ein erster Schritt zur Lösung von der Seinsgebundenheit gesehen wird. Indem ich den Sichtindex zu einer sich als absolut nehmenden Sicht hinzufüge, neutralisiere ich in einem bestimmten Sinne schon die Sichtpartikularität.” (MANNHEIM, 1929, S. 259). Im Falle des seinsverbundenen Denkens werde Objektivität etwas anderes und Neues bedeuten: […] „daß, wenn man […] in verschiedenen Aspektstrukturen steht, die ‘Objektivität’ nur auf Umwegen herstellbar ist, indem man nämlich hier das in beiden Aspektstrukturen richtig, aber verschieden Gesehene aus der Strukturdifferenz der beiden Sichtmodi zu verstehen bestrebt ist und sich um eine Formel der Umrechenbarkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivischen Sichten ineinander bemüht.” (MANNHEIM, 1929, S. 258). Wie nach Kenntnis der Gesetze der geometrischen Perspektive ein Bild in eine andere Projektion übertragbar sei – obwohl auch dieses immer ein Bild in einer bestimmten Perspektive ist –, und wie man durch die Vielheit der Perspektiven zu einer immer größeren “Fassungskraft”, einer immer größeren “Fruchtbarkeit dem empirischen Material gegenüber” gelangen könne, (MANNHEIM, 1929, S. 259) so erreiche man auch im Verlauf entsprechender sozialwissenschaftlicher Forschungen weitere und tiefere Erkenntnisse.
Mannheims „Relationismus“ geht davon aus, dass nicht nur die Sozialwissenschaftler, sondern auch die politischen Akteure bereit sind, relational denken zu lernen. In Mannheims Absicht lag es, dass sich die Anhänger der einander immer wieder bekämpfenden Weltanschauungen, wenn auch nicht inhaltlich, so doch bezüglich ihres Existenzrechts wechselseitig anerkennen. „Politisch-formaler Ausdruck dieser Ausgangslage“ ist, wie Sven Papcke im Hinblick auf Mannheims Bestreben bemerkte, „die Demokratie, weil nur sie im Wettbewerb um Sinnentwürfe und Führungspersonen die wirkliche Vielschichtigkeit der soziokulturellen Muster angemessen spiegeln und schützen kann.“ (PAPCKE, 1985, S. 176). Damit stellte sich Mannheim in Gegensatz zu den politischen Auffassungen jener nicht eben wenigen seiner Zeitgenossen, denen die Mehrparteiendemokratie nichts anderes bedeutete als entweder Relativismus und Anarchie oder eine Verschleierung der Macht- und Eigentumsinteressen weniger. Ähnlich den Auffassungen über die Möglichkeit von Kultursynthesen, wie sie von Ernst Troeltsch und Max Scheler formuliert worden waren, konzipierte Mannheim seine Lehre von der Möglichkeit einer Synthese von bestimmten Elementen der schichtspezifisch herausgebildeten Denkinhalte. So sehe jede soziale Schicht, aber auch jede Gesellschaft einen Teil der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt auf angemessene Weise, zugleich aber einen anderen in charakteristischer Weise verzerrt oder doch unterbelichtet. Da es aber Mannheim zufolge nicht einer sozialen Schicht oder einer politischen Partei, gleich wie bei Troeltsch und Scheler nicht einer Nation und Kultur allein, möglich sei, alle Partikularsichten in sich zu einer Weltanschauung im vollen Sinne des Wortes zu vereinen, sondern nur allen sozialen Gruppierungen und politischen Parteien bzw. Nationen und Kulturen gemeinsam, lehnt Mannheim jede Einseitigkeit in der Erfahrung und Beurteilung der geschichtlichgesellschaftlichen Wirklichkeit ab.
Diese Synthese der verschiedenen partikularen Aspekte kann jedoch Mannheim zufolge nur durch eine Gruppe von Menschen geleistet werden, die zur Enthüllung der in den verschiedenen Weltanschauungen enthaltenen Voraussetzungen fähig ist. Mannheim sieht diese Möglichkeiten in der schon von Alfred Weber so bezeichneten “sozial freischwebenden Intelligenz” angelegt. Auf die nicht unbedenkliche Unterschätzung der sozialen Abhängigkeit der Intellektuellenschicht ist in der zum Teil äußerst heftigen Kritik an der Mannheimschen Wissenssoziologie hingewiesen worden; sie reicht von Max Horkheimer, Georg Lukács und Karl August Wittfogel bis zu Joseph Schumpeter, Karl Popper und Theodor Geiger. Fraglos hat Mannheim den Zusammenhang zwischen Erkennen und Handeln überschätzt, da er geglaubt zu haben schien, dass jenes geradezu notwendig dieses zur Folge haben müsse. Doch Erkennen und Wollen, aber auch Wollen und Handeln sind bekanntlich oft weit voneinander entfernt. Aber bringt vielleicht Mannheims Darstellung der Intelligenz weniger einen deskriptiven Befund als vielmehr eine normative Erwartung zum Ausdruck? Wer Ideologie und Utopie so versteht, wird in dem Buch vor allem auch eine Verteidigung und Rechtfertigung eines bestimmten Typus des unparteiischen Intellektuellen im Augenblick vor dessen durch die politischen Verhältnisse bewirktem Verschwinden sehen können. An seine Stelle traten Ideologen, die das ihren Interessen konforme Prinzip der Parteilichkeit mit einem geschichtsphilosophisch verbürgten Wahrheitsanspruch koppelten.
Man wird eine grundlegende Schwäche von Mannheims unorthodoxem Ansatz dennoch nicht übersehen können: sie hat nicht sosehr mit seiner Erwartung zu tun, dass die Intelligenz sich auf die Umrechnung der verschiedenen schichtspezifischen Perspektiven und damit auf das Geschäft der Mediation zwischen den politischen Lagern verstehen könnte, sondern mit dem Ausblenden der für ein solches Agieren maßgeblichen politisch-institutionellen Bedingungen. Nicht die Intellektuellen, so stellte im Hinblick darauf Sven Papcke fest, sondern „einzig die demokratische Organisation des öffentlichen Raumes vermag vielleicht den ‚Relationismus’ zu gewährleisten.“ (PAPCKE, 1985, S. 178). Das aber setzt voraus – und darin liegt die weiterwirkende Bedeutung von Mannheims Beitrag –, dass sich jede Theorie der Mehrparteiendemokratie gewissermaßen auf eine Weltanschauung höherer Ordnung einlässt, welche durch ihre Verfassungsgrundsätze die „Seinsgebundenheit“ der „Ideologien“ und „Utopien“ und der mit ihnen verbundenen Wertorientierungen anerkennt. Dies besagt, mit anderen Worten, die durch die Verfassung – das funktionale Äquivalent von Mannheims äquidistanten Intellektuellen – verbürgte Anerkennung der Einsicht, dass jeder moralisch-politische Absolutismus unhaltbar und in seiner Geltung relativ, weil nicht universell, sondern partikular ist. (PAPCKE, 1985)
Schlussbetrachtung: Universalismus, Relativismus, Toleranz
Universalismus, Relativismus und Toleranz bilden, wie Panajotis Kondylis in einer anregenden Abhandlung zu diesen drei zentralen Begriffen der gegenwärtig in der sogenannten westlichen Welt dominierenden weltanschaulichen Orientierung ausführt, zusammengenommen einen Gedankenkomplex, der sowohl epistemologische als auch politische Aspekte hat. (KONDYLIS, 2001) Dieser Zusammenhang ist auch in den Ausführungen zu Kelsen und Mannheim offenkundig geworden. Kondylis geht bestimmten geschichtlich neuartigen, auch politisch brisanten Konsequenzen nach, die sich aus der Verknüpfung der Toleranzforderung mit universalistischen und mit relativistischen Positionen ergeben.
Aus westlicher Sicht gilt es seit der Aufklärungsphilosophie als ausgemacht, dass in den Menschenrechten die Forderungen der Einen Vernunft in ihrer Anwendung auf das Verhalten zwischen den Menschen und Staaten konkrete Gestalt angenommen haben. Nun meint Kondylis, dass allerdings auf der materiellen und sozialpsychologischen Basis der geschichtlich beispiellosen westlichen Wohlstandsgesellschaften jener „staatlich geschützte Pluralismus der Glaubens- und Lebenshaltungen“ entstanden sei, „vor dessen Hintergrund die ehedem Eine Vernunft ihre universelle kognitive und ethische Kompetenz verlieren musste“. 27 (KONDYLIS, 2001, S. 46). Als eine Folge dieser Entwicklung stecke die bislang als universell verstandene Vernunft nicht mehr die Grenzen des zu Tolerierenden ab, sondern sie selbst werde nur mehr als eine Einstellung neben anderen toleriert. Auf diese Weise werde die Vernunft dem mit ihr ursprünglich eng verknüpften Toleranzgebot untergeordnet und so das vormals universell Geltende partikularisiert. 28 Gleichzeitig damit wurde aber der Anspruch auf Universalisierung der Toleranz gegenüber partikulären Ansprüchen formuliert.
Hier, vor dem Hintergrund dieser Toleranzforderung, zeigt sich nun die widersprüchliche Koexistenz von Universalismus und Relativismus in dreifacher Hinsicht: Zunächst soll Toleranz als ethisch-politisches Gebot ebenso universell sein wie die (alte) Vernunft, das aber, was zu tolerieren ist, kann partikulär und relativ sein. Die universelle Anerkennung des Partikulären findet allerdings eine Grenze insofern, als das zu tolerierende Relative und Partikuläre sich in dem Maße einzuschränken hat, wie dies die Toleranz gegenüber anderem Partikulären und Relativen erfordere. Angesichts dieser Ambivalenz wird verständlich, warum Universalismus und Relativismus sich einerseits als die jeweils besten Hüter der Toleranz präsentieren, andererseits aber einander wechselseitig einer intoleranten Gesinnung verdächtigen. – Sodann laufen, zweitens, Relativisten und Universalisten im Verlauf ihrer Bezugnahme auf das Höchstideal der Toleranz Gefahr, in bestimmter Hinsicht logisch inkonsistent zu werden: die Relativisten und Partikularisten dadurch, dass sie durch die These von der Relativität aller Standpunkte und Werte einem einzigen Standpunkt und Wert, nämlich dem der Toleranz und des Friedens, dienen wollen; die Universalisten dadurch, dass sie zwar das Ideal der Toleranz als ein anthropologisches Universale betrachten, aber dennoch die kulturgeschichtlich und soziologisch nachweisbare Tatsache nicht leugnen können, dass Toleranz als Wert und Postulat das Produkt eines bestimmten Kulturkreises – oder auch einiger, aber gewiss nicht aller Kulturkreise – ist. Während also die Universalisten die Toleranz in Anbetracht ihrer Genese als etwas Partikuläres anzusehen haben, müssen sich Partikularisten fragen lassen, wie sie es anstellen wollen, dass der allgemeinen Geltung des Wertes der Toleranz die gebührende Anerkennung gesichert wird, ohne nicht doch im Sinne der Universalisten zu argumentieren. – Und schließlich stößt, drittens, das Prinzip der Gleichheit der Kulturen, welches von den Partikularisten als Vorbedingung interkultureller Toleranz anerkannt wird, (Dazu BURGER, 2001; DEMANDT, 2005) selbst bei den meisten ihrer Anhänger dann auf Grenzen, wenn sich – beispielsweise angesichts bestimmter Terror-Attacken in verschiedenen Regionen der Welt – die Frage stellt, ob, wann und wie man auch Feinde der Toleranz tolerieren soll.
Die Toleranz ist zum Grundwert der für die westliche Welt als verbindlich angesehenen moralisch-politischen Weltanschauung geworden. Sofern Toleranz der Rechtfertigung der an der Macht Befindlichen und ihrer politischen Orientierung gleichermaßen dient wie der Legitimierung des gegen die Herrschenden gerichteten politischen Kampfes, ist sie sogar zur universell nutzbaren Rechtfertigungsideologie avanciert. Und so kann auch in diesem Fall – obschon es bereits wiederholt proklamiert wurde – von einem Ende der Ideologie nicht die Rede sein
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Der Sinn der „Wertfreiheit” der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922). 3. Aufl. Tübingen, 1968, S. 489-540. WITTGENSTEIN, L. Über Gewißheit. Hrsg. v. ANSCOMBE, G. E. M. und WRIGHT, G. H. von, Frankfurt a. M., 1977. Schriften. Frankfurt am Main, 1960, S. 277-544. On Certainty. Oxford, 1969
Referenzen, Anmerkungen
- Anm. steinerschüler: https://philpapers.org/rec/ACHWBE ↩
- Anm. steinerschüler: HTML Version des PDF unter https://e-revista.unioeste.br/index.php/aoristo/article/view/21567/13787 ↩
- Anm. steinerschüler: https://www.britishphenomenology.org.uk/aoristo-international-journal-of-phenomenology-hermeneutics-and-metaphysics/ ↩
- Anm. KA: Hier heißt es: “Das gegebene Unendliche (…) ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüthe erfordert. Denn nur durch dieses und dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat unterlegt wird, wird das Unendliche der Sinnenwelt in der reinen intellektuellen Größenschätzung unter einem Begriffe ganz zusammengefaßt, obzwar es in der mathematischen, durch Zahlenbegriffe nie ganz gedacht werden kann.” ↩
- Anm KA, im Folgenden immer Anm. durch KA: Solche hatte Jean Paul, wenn auch mit ungleich umfassenderem Anspruch und in naturgemäß anderer Absicht, in seiner 1804 erschienenen Vorschule der Ästhetik dem Genie vorbehalten. – (PAUL, 1963, §10) ↩
- Zitiert nach (BETZ, 1981, S. 24) ↩
- Siehe dazu vor allem (DILTHEY, VIII 1977, S. 73-118, S. 220-226 und S. 227-235); siehe vor allem auch DILTHEY, V 1974, S. 403) ↩
- Die anthropologische Dreigliedrigkeit der Seelenvermögen – Verstand, Gefühl und Willen – ist nicht allein auf die begriffliche Erfassung des “Was” und des “Wie” der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit bezogen, sondern auch auf die Frage “Warum?”. Die Antwort darauf kann abermals entweder durch das naturwissenschaftliche Erklären vom Verstand her gegeben werden oder durch ein – vor allem auf Inhalte der Religion oder der Kunst bezogenes – Verstehen auf der Grundlage gefühlsmäßiger Beziehungen. ↩
- Gewisse Varianten des Materialismus, Idealismus und Psychologismus können dafür als Beispiele genannt werden. ↩
- Ähnlich auch. (WACH, 1932) ↩
- Zur Weltanschauungsanalyse von Nationalideen siehe Schelers Abhandlung “Nation und Weltanschauung”, in: (SCHELER, 1963, S. 115-219) ↩
- Zeitlich vorangegangen ist Scheler in dieser Hinsicht Karl Mannheim mit seinem Versuch einer “Typologie der Erkenntnistheorien”. Siehe (MANNHEIM, 1922; wiederabgedruckt: 1964, v.a. S. 224-235) ↩
- Vgl. (HABERMAS, 1965, abgedruckt in: Ders. 1968, S. 146-168) ↩
- Vgl.: (LEISEGANG, 1928; LEISEGANG, 1951, v. a. S. 446-454). So heißt es beispielsweise auf S. 447: “Man kann wohl sagen, daß alle Absurditäten und Ungeheuerlichkeiten, auf die wir in der Philosophie-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte treffen, darauf beruhen, daß eine an einem bestimmten Wirklichkeitsbereiche ausgebildete Denkform auf die ganze Welt mit allen ihren Erscheinungen übertragen wird, als ob sie alle von derselben Struktur wären, wie dieses eine in sich geschlossene Gebiet. Die großen einseitigen Weltanschauungen sind alle aus einer ungerechtfertigten Übertragung entstanden.” – Von besonderer Bedeutung für die Folgezeit waren Diltheys typologische Bestrebungen in seiner “Philosophie der Philosophie” auch für das, was man später Philosophische Systematologie oder Metaphilosophie nennen sollte. In ausdrücklichem Anschluss an Dilthey, aber auch in der Nachfolge früherer weltanschauungsanalytischer Bestrebungen von Heinrich Gomperz, bei dem er sich habilitierte, verfasste Franz Kröner im Jahre 1929 eine Untersuchung, die, wie bereits deren Titel anzeigt, ein für Diltheys Weltanschauungslehre signifikantes Thema betrifft: Die Anarchie philosophischer Systeme (KRÖNER,1929; 1970). – Siehe dazu (ACHAM, 2001, S. 373-410). ↩
- Wie Weber ausführt, seien Weltanschauungsparteien an abstrakten Prinzipien orientiert und ähneln in mancher Hinsicht den Glaubensparteien, wobei, wie bei diesen, der Zwist über die Inhalte der Weltanschauung die Form der Häresie annehmen kann. (WEBER, 1972, S.167 f.) ↩
- Die frühen Positivisten misstrauten im Namen der Wirklichkeit der bloßen Beschwörung von utopischen Möglichkeiten und jenen Menschenfreunden – angefangen von Mirabeau und Lafayette –, die bestimmten, wer unmenschlich oder undemokratisch handelte und dachte. Wie schon Rousseau gegen die Mehrparteiendemokratie Stellung bezogen hatte, so war auch den Hauptexponenten der Französischen Revolution die angeblich durch den politischen Pluralismus gleichermaßen wie durch die Gewaltenteilung bewirkte Zersplitterung des Volksgeistes ein Gräuel. Der Konsens der Vernünftigen sollte für alle nicht Arglistigen die allgemein angesonnene Einstellung und Handlungsweise festlegen; und so war es nur konsequent, wenn aus Sicht der radikalen Revolutionäre nicht erst die Tat, sondern bereits der abweichende Gedanke einen Bürger verdächtig machte, nicht fest genug zur Wertegemeinschaft der wahrhaft Aufgeklärten zu stehen. ↩
- Zur Kritik der frühpositivistischen Lehren siehe insbesondere auch (HAYEK, 1979, v. a. Teil 2 und 3). (Dieses Buch ging aus sechs Artikeln hervor, die von 1941 bis 1944 in der Zeitschrift Economica abgedruckt wurden und erstmals 1952 unter dem Titel The Counter-Revolution of Science in Glencoe, Ill., als Buch erschienen sind.) ↩
- Dieser Ansicht zufolge soll es möglich sein, dass in politischen Belangen eine aufgeklärte Minderheit ihre Interessen mit Zwang auch gegenüber der Mehrheit durchsetzen kann. Wie Lenin ausführte, gebe es Situationen, in denen die Avantgarde des Proletariats besser wisse, wie die Probleme der Gesellschaft zu lösen sind als das Proletariat selbst; wenn nämlich die Mehrheit ein falsches Bewusstsein habe, sei es nötig, als Minderheit aktiv gegen deren Willen vorzugehen. Chinas KP schloss hier an, und so war es möglich, die von der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung als bedrückend empfundenen Maßnahmen Mao Zedongs unter Hinweis darauf zu rechtfertigen, dass dieser – so etwa auch in der im Jahre 1957 erfolgten Selbstkritik Zhou Enlais – als “Vertreter der Wahrheit” betrachtet und dadurch als zur Durchführung solcher Maßnahmen autorisiert erschien ↩
- Siehe dazu und zur Bezugnahme von Viktor Klemperer auf Schnitzler die Ausführungen von Werner Betz: (BETZ, 1981, S. 22 f.) ↩
- Nicht die sogenannten letzten „Wertaxiome“ stehen nach Weber der logischen und empirischen Kritik offen, wohl aber die aus ihnen abgeleiteten Argumente. Gewiss hat deren stringente Kritik nicht automatisch eine Änderung der normativen Orientierung des Kritisierten zur Folge. Seine Auffassung als begründet auszugeben, sie aber selbst bei erwiesener Unhaltbarkeit beizubehalten, gibt Aufschluss darüber, dass man argumentative Konsistenz und ihre Respektierung nicht als einen Wert ansieht. Im Willen zur Rationalität steckt ja in der Tat mehr Moralität als viele wahrhaben wollen. ↩
- Stephen TOULMIN ist diesen Zusammenhängen in seinem anregenden Buch Cosmopolis: The Hidden Agenda of Modernity (1990) nachgegangen; (TOULMIN, 1994) ↩
- “‘So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?’ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.” – (WITTGENSTEIN, 1960, 389; Vgl. WITTGENSTEIN, 1960, S. 300 (§23) und S. 296 (§19)). Vgl. zur Wirkungsgeschichte dieser Auffassung die Ausführungen in Kap. 10 („Geschichtstheorie“) (WITTGENSTEIN, 1960). ↩
- Beim „späten Wittgenstein“, so meinte daher auch Jean Améry, poche „das Vokabular auf sich selbst“ und wolle sich „als Sprachspiel seine Legitimität affirmieren“. (AMÉRY, 1971, S. 34) ↩
- Die „Wahrheit“ von Normen wird dabei als Ergebnis eines realen historischen Prozesses zunächst einmal eher vorausgesetzt als theoretisch einsichtig gemacht, eher als einer bestimmten Situation angemessen akzeptiert, denn als wahr geglaubt. Diese Variante der Kritischen Theorie statuiert in den jüngeren ihrer gesellschaftstheoretischen Darlegungen eine Einstellung, der zufolge es – im Unterschied zu früheren Überzeugungen – nicht mehr darum gehe, den Glauben an normative Propositionen als wahr zu erweisen, sondern darum, für ihre Geltung nach Maßgabe bestimmter Bedingungen und Gesichtspunkte Anerkennung zu finden. (HABERMAS, 1973). ↩
- So schreibt VOLTAIRE im Art. «Locke», ebd.: „Il y a des gens, à la vérité, qui prétendent qu’un homme qui se vantait d’avoir un génie familier, était indubitablement un peu fou ou un peu fripon.“ ↩
- Darüber hinaus ist nach Mannheim noch eine weitere Spezifizierung der Bedeutung des Ideologiebegriffs von Wichtigkeit: Speziell ist die Verwendung des Ideologiebegriffs, wenn ein bestimmter Gegner in seinen Auffassungen verunsichert werden soll, allgemein hingegen, wenn man den Mut hat, nicht nur die gegnerischen Standorte, “sondern prinzipiell alles, also auch den eigenen Standort, als ideologisch zu sehen”. Oder in anderen Worten von Mannheim: „Bisher hat man bestimmte Gehalte bekämpft, dafür aber umso hartnäckiger die eigenen verabsolutiert; jetzt gibt es zu viele gleichwertige, auch geistig gleichmächtige Positionen, die sich gegenseitig relativieren, als daß sich ein einziger Gehalt oder eine einzige Position dermaßen verfestigen könnte, daß sie sich absolut nehmen dürfte. Nur diese sozial aufgelockerte Situation macht die Tatsache sichtbar, die sonst durch [… ↩
- Dies heißt nicht weniger, als dass sich aus der auch von Jürgen Habermas beschworenen „Einheit der Vernunft“ die „Vielheit ihrer Stimmen“ gelöst hätte. Dazu dessen nicht ganz unkomplizierte, aber in ähnlichem Zusammenhang geäußerte hoffnungsfrohe Bemerkung: „Meine Überlegungen laufen auf die These hinaus, daß die Einheit der Vernunft allein in der Vielheit ihrer Stimmen vernehmbar bleibt – als die prinzipielle Möglichkeit eines wie immer okkasionellen, jedoch verständlichen Übergangs von einer Sprache in die andere. Diese nur noch prozedural gesicherte und transitorisch verwirklichte Möglichkeit
der Verständigung bildet den Hintergrund für die aktuelle Vielfalt des einander – auch verständnislos – Begegnenden.“ – (HABERMAS. 1988, S. 2) ↩ - So gilt z. B. ungeachtet der oft bizarren Inhalte von Produkten der sogenannten Kulturindustrie Toleranz ihnen gegenüber als Gebot höherer ethisch-humanistischer Vernunft. Vgl. in diesem Zusammenhang (BURGER, 2001) ↩