Gegenteile nenne ich zwei zueinander und zum Rest derselben Weltanschauung extreme Substanzen; Gegenarten nenne ich zwei zueinander polare Weltanschauungen. Mehr dazu ist in diesem Artikel zu finden. Substanz ist hier ein Teil einer Weltanschauung. Der Gegensatz umfasst Gegenteile und Gegenarten. Der Dualismus arbeitet mit Gegenteilen, der Polarismus mit Gegenarten.
“Die Vielfalt der menschlichen Psychen ist nahezu willkürlich”1, das ist der Schluss zu dem ein jeder irgendwann kommen muss, wenn man mit genügend vielen Menschen geredet hat. Erzählt man z.B. einen Witz, so wird der eine lachen, der andere findet ihn nicht lustig, und der dritte wird die Pointe nicht verstehen. Durch die Willkür der Psyche bringt es nichts, Menschen von irgendwas überzeugen zu wollen, weil meist geglaubt wird, was geglaubt werden will.
Der folgende Artikel ist zu Ehren Russlands geschrieben, im Gedanken an den 9. Mai, dem Tag, an dem die Slawen dem ‘vaterländischen Krieg’ gedenken. Ich bin nicht russischer Herkunft, und ich gewinne oder verliere nichts, wenn sich die Haltung anderer gegenüber Russland in die eine oder die andere Richtung bewegt. Jemand wird sich am Folgenden stören, jemand anderes wird es vielleicht interessant finden, eine dritte Person wird nicht verstehen, was ein solcher Artikel mit den Weltanschauungen zu tun hat – auf eine vierte Person wird vielleicht alles auf einmal zutreffen.
In meinen Augen widerspricht das Polaritätsprinzip der dutzend Weltanschauungen dem Denken, das sich die Menschen im Westen gewöhnt sind, nicht aber dem Denken wie es bei den Slawen, und darin speziell bei den Russen, zu finden ist (dazu im Verlauf des Artikels mehr). Weil ich die Weltanschauungen aus diesem Grund eher in Russland als im Westen verwirklicht sehe, scheint mir die Beschäftigung mit Russland und den Russen zunehmend mehr wert zu sein als die Beschäftigung mit den hiesigen Menschen, da man hier immer und immer wieder über ähnliche Probleme der Einseitigkeit zu stolpern scheint (als Anwender wie als Beobachter).
Der folgende Artikel umfasst einleitend eine Idee zum roten Platz in Moskau (da ich dafür nicht einen eigenen Artikel schreiben möchte), dann einige Gedanken zur meiner Meinung nach schon immer herablassend gewesenen Haltung des Westens zu Russland, und wie diese Haltung wohl entstanden ist; und schliesslich, wie in der Gegenwart politisch gedacht werden kann ohne automatisch auf Narrative aufzusteigen.
Lese wer will, und lasse das Lesen sein, wer nicht. Ich werde mich nirgendwo dafür rechtfertigen, gegen den Gleichschritt anderer zu laufen2.
Die Gliederung des roten Platzes
Wer einmal in Russland war, wird vielleicht den roten Platz besucht haben. Der rote Platz ist nicht nur vom Kreml, dem politischen Zentrum Russlands, und der Basilius-Kathedrale umgeben, sondern auch von einem Kaufhaus mit dem Namen “Gum” (vor den Kommunisten das ‘Grosshandelsgebäude’, während den Kommunisten ein Behördenhaus; heute das Kaufhaus; und für die Zukunft ist ein Hotel geplant). Auf der West- oder Südwestseite haben wir den Regierungssitz, den Kreml (respektive dessen Ostmauer), auf der Süd- oder Südostseite den Religionssitz, die Basilius-Kathedrale, und auf der Ost- oder Nordostseite haben wir das Einkaufszentrum.

In diesem Bild sind Rechtsleben (Kreml, rechts), Geistesleben (Basilius-Kathedrale, mitte) und Wirtschaftsleben (Gum, links). Auf der russischen Flagge geht diese Reihenfolge nach der Logik der Farben der französischen Revolution von oben nach unten (die französische Flagge geht hingegen von links nach rechts: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; von blau über weiss zu rot).


Erde, Wasser, Himmel
Streng genommen ist das Geistesleben auf drei kleinere Gebäude um den roten Platz herum verteilt (die Basilius-Kathedrale ist im Vergleich zum Einkaufshaus und zum Regierungssitz nicht sonderlich gross, dafür umso schöner): auf der Nordwestseite steht das historische Museum, auf der Nordseite die Kasaner Kathedrale, während die Basilius-Kathedrale zum Südosten liegt (siehe Karte unten).

Wie darüber nachzudenken ist, weiss ich noch nicht. Wie sich auf dieser Webseite aber immer wieder zeigt, soll folgendes gelten: ist die Idee einmal vorhanden, folgt das daraus Mögliche irgendwann automatisch. Die Verteilung der drei Gesellschaftsglieder zeigt vielleicht, wo der Fokus in Russland bisher stand: weniger im freien Wirtschaften, und mehr im Regieren und Regulieren; folglich die Grösse des Rechtsgebäudes neben den Wirtschafts- und Geistesgebäude. Zwischen den beiden grossen sind verstreut die drei Geistesgebäude. Da in Russland aber immerzu ein Wandel am geschehen ist, kann sich die Form und Verwendung der Gebäude um diesen Platz herum aber bestimmt noch viele Male in verschiedensten Arten verändern.
9. Mai: Tag des Sieges
День Победы (Djen Pobedy), Tag des Sieges.
Politische Fragen liegen mir stets nahe, da die Politik in vielen, die Gegenwart betreffenden Bereichen eine wichtige Rolle spielt. Es ist manchmal schwer sie von dieser Webseite wegzuhalten, da die Weltanschauungen immer auch in der Zeit existieren: in der Gegenwart durch den Zeitgeist, in der Vergangenheit durch Bücher und Erzählungen, und in der Zukunft bestimmt auch in dieser oder jener Weise. Und sie sollten durchaus von weltanschauung.org, so gut es geht, abgegrenzt werden, denn die dutzend Weltanschauungen, oder das Weltanschauungsprinzip überhaupt, hat weit über den einfachen Geschehnissen der Gegenwart zu stehen, und sich nicht partisan in die Streitereien der Stunde zu verstricken. Einer solchen Anforderung möchte ich auch mit dieser Webseite gerecht werden. Allerdings gibt es auch einige Wege, Gegenwartsprobleme in diese Webseite hineinzuschleichen, und das ist z.B. über die Themen des guten Denkens und des guten Dialogs möglich. Denn mit schlechtem Denken ist es schwierig, sich auf die Weltanschauungen einzulassen. Und so nutze ich im Folgenden durch das gegenwärtig verbreitete Denken zu Russland ein Beispiel wie politisch gedacht werden kann, ohne dass gleich auch schlecht gedacht werden muss, und wie folglich das Denken über und durch die Weltanschauungen das Denken über Politik nicht ausschliessen muss.
Heute ist der 9. Mai, der “Tag des Sieges”, ein Tag, an dem Russland dem Verlust eines grossen Teiles seiner Bevölkerung durch Deutschland, Finnland3, Österreich und vieler anderer europäischer Länder gedenkt. Etwa 27 Millionen Menschen sind auf sowjetischer Seite im “Grossen Vaterländischen Krieg”, wie die Slawen den zweiten Weltkrieg nennen, gestorben (manche Schätzungen gehen, mit all den Kriegsfolgen, von bis zu 40 Millionen sowjetischen Toten aus). Die Russen sagen, dass sie den Krieg zwar gewonnen haben, dass er sich durch die jede Familie betreffenden, gewaltigen Verluste aber noch nie wie ein gewonnener Krieg anfühlte (es war dennoch kein Pyrrhussieg, also zwar ein Sieg in einem Kampf, der aber so teuer gewonnen wird, dass der Krieg deswegen verloren wird; denn wirklich zu verlieren wäre für die Sowjets durch die Überlegenheitsideologie des dritten Reiches womöglich noch blutiger geworden).
Unser Selbstverständnis
Wir leben in einer apolitischen Welt, wenn das Wort ‘Politik’ seinem Sinne nach in Abgrenzung zum Privaten verstanden wird; denn Politik betrifft das rein Öffentliche, nicht das Private, und wir haben (abgesehen von sehr lokalen Gemeindeversammlungen) wohl nirgendwo rein Öffentliches, auch nicht in unseren scheinbar überlegenen, westlichen ‘Demokratien’ (wir haben auch keine Demokratien, da Demokratien per Definition unmöglich Parteien, Repräsentation, Wettbewerb um Macht, verschlossene Türen/Staatsgeheimnisse usw. haben, mehr dazu z.B. hier). Alles, was wir als Politik bezeichnen, ist mindestens vermischt mit Privatem, häufig ist es gar komplett privat, mit einem Anschein von Öffentlichkeit.
Wenn wir also über öffentliche Dinge nachdenken, über Dinge wie Staatsausgaben, Bevölkerungsverteilung, Umweltschutz usw, so denken wir über mindestens halbprivate Dinge nach, weil hinter allen Projekten des modernen Staates bestimmte Firmen, Gewerkschaften, Ideologien, Investoren, Verbände, und weiss der Geier was alles, stehen. Diese Interessenten vertreten sich und ihre Mitglieder, und sie beeinflussen das Geschehen, durch das all die Entscheidungen getroffen werden. Die Parlamentsgebäude, Rathäuser, all die Säle, Kammern, Hallen, Paläste in denen sich die Vertreter von Geldern und Ideologien treffen, sind im Prinzip Kampfarenas, in denen zivilisiert (d.h. mit Rhetorik und Verhandlungen, manchmal vielleicht auch mit etwas Erpressung) um verschiedenste bedeutende Entscheidungen gerungen wird. Die Wahlen, die Massenmedien und die Abstimmungen sind nicht ausschlaggebend, sondern ein Prozere rundherum, ein Teil der Administration oder Infrastruktur des Kämpfens, wenn man so will, durch das der mündige Teil des Volkes durchaus einen gewissen Einfluss nehmen kann (nur abhängig davon, wer sich zur Wahl stellt und wie geschickt diese Person mit Dingen wie Massenmedien umgehen kann).
Dies ist im Widerspruch dazu, was unter der Idee der Demokratie bei den alten Griechen geschaffen, und von Platon und z.T. auch Aristoteles in dessen Gründen in gewisser Weise nicht mehr verstanden wurde (folglich z.B. die Idee des ‘Philosophenkönigs’). Die Demokratie musste beispielsweise alle entscheidungsfähigen Bürger in der Polis versammeln (nicht gleichzeitig, sondern für eine jeweilige Problemstellung eine zufällige (!) Selektion aus der Bürgerschaft), wofür ein Grossteil des intellektuellen Kapitals der Gesellschaft in Bildung investiert werden musste. Denn um theoretisch jeden Bürger an jeder Gesellschaftsfrage teilnehmen lassen zu können bedingt, dass ein jeder Bürger die Fragen versteht, und negative oder mögliche Wirkungen seiner eigenen Ideen und Lösungen vorausahnen, und dafür oder dagegen kompensieren kann. Es braucht somit nicht nur den klugen, aufmerksamen und wissensreichen Bürger für die echte Polis, sondern auch den reflektierten, besonnenen und tugendhaften. Den Bürgern, ja allen Bürgern, solche Tugenden zu lehren, ist äussert schwierig. Schafft man es nicht ihnen das zu lehren, und dafür einen Prozess für deren erarbeitete Fähigkeiten zu formen, so hat man noch immer eine Menschenmasse, ein ‘Volk’, anstatt dass man Bürger hat.
Schlechtes Denken ist weit verbreitet. Im über Jahrzehnte, wenn nicht gar seit Generationen gefestigten Glauben, mindestens institutionell besser zu sein als der Rest der Welt, hat sich der Westen in seiner Selbstsicht selber überhöht, und ist nun in der fast absurden Situation, seine zwar mangelhaften aber doch funktionierenden Staatsformen neben häufig noch mangelhafteren Formen in vielen Aspekten als unterlegen oder mindestens ähnlich scheiternd zu sehen, und sich zu sich selbst rechtfertigen zu müssen, wie das Wahrgenommene doch irgendwie anders sein müsse, als die Wirklichkeit (und so wird nach Wahrnehmungen gesucht, die die gewünschte ‘Wirklichkeit’ bestätigen). So hat etwa die hyperfinanzialisierte Wettbewerbsgesellschaft mit der Zeit Mühe, sich auf einfache, materielle Leistungen (etwa Industrien rund um Rohmaterialien) zu besinnen, und sich mit der unverrückbaren Wirklichkeit der Notwendigkeit von Rohstoffen und skalierbarer Energie nüchtern zu beschäftigen (d.h. ohne von Beginn an vom Sollzustand auszugehen, und infolgedessen etwa mit Solarpanels den hundertfachen Terawattbedarf der Grossindustrie versorgen zu wollen); nur um eines der vielen anwachsenden Probleme der Institutionen des kollektiven Westens zu erwähnen.
Das Wahrgenommene mag nicht mit unserem überhöhten Selbstbild übereinstimmen, aber es entspricht dennoch der Realität: unsere Staatsformen sind nicht die schlechtesten, aber unsere Selbstüberhöhung, und unser daraus folgendes Unverständnis zu vielem Wirklichen, und der daraus entstehenden Diskrepanz zwischen Selbstbild (wie wir uns selber sehen) und Selbstsein (wie wir wirklich sind), führt bei uns in manchen Themenbereichen zu einer eindrücklichen kollektiven kognitiven Dissonanz.
Die russische Seele
Unsere falschen Vorstellungen zu uns selbst, und daraus folgend zur Welt, sind nicht in jedem Falle notwendigerweise gravierend. Man kann mit falschen Vorstellungen leben, solange die falschen Vorstellungen nicht axiomatischer, d.h. grundlegender Natur sind. Ob ich etwa glaube dass weiss-schwarze Kühe weisse Milch geben, und weiss-braune Kühe Kakao4, ändert nichts an meiner Fähigkeit, mich mit der Vielfalt der Weltanschauungen zu beschäftigen. Eine kleine Falschheit ändert nichts an meinen Möglichkeiten, die Welt zu verstehen. Wenn die Falschheit aber vor anderen Dingen kommt, wenn ich z.B. mir, meinen Mitmenschen und meinem Land eine heldenhafte Rolle zuspreche, und alle anderen als unfähig, bedürftig, korrupt usw. betrachte5, so verschlechtert sich meine Fähigkeit die Ereignisse in der Welt zu verstehen erheblich. Falsche Vorstellungen zu Politik die grundlegend sind, erschweren folglich in grundlegender Weise das Verständnis zu allem danach kommenden Politischen.
Der kollektive Westen ist in der Gegenwart in einer wahrhaft manischen Russophobie gefangen (wir sind jetzt, im Frühling ’23, bei der 11. Sanktionswelle). Der kollektive Westen revisioniert durch die Massenmedien mit geschickter auslassender oder übertreibender Rhetorik, oder gar diametral zum Wahren stehenden Lügen selbst gut dokumentierte, einfache Ereignisse6, in der Hoffnung oder im Glaube, dass niemand genauer hinschaut; missrepräsentiert die russische Sicht auf Geopolitik, indem er alles aus dem Osten Kommende ohne geringste Erwägung, geschweige denn tatsächlicher Überprüfung als Propaganda verwirft; und übertreibt schliesslich die Güte des eigenen Tuns. Bei den unzähligen daraus entstehenden Fällen von “er sagt sie sagt” kann aber mit einer bestimmten Strategie mit relativ guter Treffsicherheit erkannt werden, wer begonnen hat, und wer es ist, der dem anderen genau das vorwirft, dessen er selber schuldig ist: durch Präzedenz (vergleichbare vergangene Vorfälle). Wer sich heute nicht sicher ist wer lügt, schaue einmal ausserhalb der bekanntesten Quellen, was in der Vergangenheit so behauptet wurde, und wie sich dann die Tatsachen herausgestellt haben. Wo folgen die Aussagen ganz bestimmten, gesuchten Begriffen, und wo ist dagegen perspektivische Vielfalt möglich? Nur das Falsche verheddert sich in Widersprüchen, wenn ein Ereignis oder ein Zustand aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Denn die Chance besteht, dass der Lügner nicht zum ersten Mal lügt, und dass sich die Wahrheit bald einmal gezeigt hat, und nun überprüfbar ist. Wochen oder Monate später einen zweiten Blick auf die spektakulärsten Gräueltaten, die am dicksten in unseren Zeitungen aufgeführt werden, zu wagen, wenn sich die Gemüter beruhigt haben und sachlicher überlegt werden kann, ist jedem Menschen im Westen (oder jedem Menschen generell) zu empfehlen. Es stellt sich nämlich heraus, dass da häufig unabhängige Untersuchungen durch die Angeklagten gefordert und vom Westen abgewiesen werden; dass durch die Angeklagten abgehörte, aufgenommene und veröffentlichte Telefongespräche der Ankläger das Gräuel in ganz anderem Licht erscheinen lassen; dass sämtliche Gegenbeweise der Angeklagten konsequent heruntergespielt werden, und dass sich unsere Medien für all die nachfolgenden Enthüllungen nicht sonderlich interessieren.

Die negative Haltung des Westens zu Russland und Russen ist in meinen Augen nur möglich, wenn man Russland allein von aussen betrachtet, ohne sich jemals auf das Land und die Menschen einzulassen, und indem nur eine ganz bestimmte Selektion von zur Verfügung gestellter Information konsumiert wird, ohne selber jeglichste Recherche zum guten Gegenargument anzustellen (eine so häufige wie unbegreifliche Strategie). Ganz besonders dort, wo Hass vorhanden ist, ist eindrücklich zu sehen wie der offene Blick auf das Land und die Menschen vermieden wird, und nur indirekt, über in bestimmter Weise geformte und gewinkelte Spiegel (Tageszeitungen, Fernsehdokus, Radioprogramme) das Hinschauen (zu welchem Zweck auch immer) gewagt wird.
Dass Russland alles andere ist, als im Westen mindestens seit dem Ende der Sowjetunion behauptet wird, ist für Menschen mit nüchternem Blick leicht zu sehen. Russland, die “russische Seele”7 nicht sehen zu können, ist für die Weltanschauungsvielfalt im Westen ein folgenschwerer Fehler. Denn die Russen, oder man sollte vielleicht von Slawen allgemein sprechen, haben, wie mir scheint, ob nun ihrer Sprache, Geschichte oder Kultur wegen, weit mehr Kompatibilität mit den Gesetzmässigkeiten des Weltanschauungsprinzips: sie fühlen sich ohne das Vorhandensein von Gegenartigkeiten (Polarismus; oder mindestens vielfältige Verschiedenheiten: Pluralismus) unwohl; sie spüren, dass ohne das Einschliessen der Möglichkeit des Gegenartigen irgendetwas nicht stimmen kann, dass eine Einseitigkeit wahrscheinlich ist. Die westliche Kultur lehrt hingegen, dass das ‘beste’ Wissen durchaus eine Gewissheit haben kann, ja dass dies ein Ziel ist: das Wissen muss darüber hinaus beweisbar, überprüfbar und widerlegbar sein, um gelten zu können8. Es wird, vereinfacht gesagt, z.B. zwischen weiss und schwarz unterschieden (Dualismus – mit Monismus als Ziel), oder, wenn mehr Nuance möglich ist, ein Ort zwischen weiss und schwarz festgestellt, und die Wahrheit hat dann in dieses Raster, an diesen Ort zu passen. Es wird bei uns aber vermieden, durch Gegenartigkeiten hindurch zu sprechen. Um rechtmässig an ‘etabliertem’ Wissen rütteln zu können, muss uns, nach unserer denkerischen Tradition, meist erst ein Wissen kommen, das unter den gegebenen, gleichen Bedingungen besser fährt.
Dass damit all das in solcher Weise nicht nahbare Wissen notwendigerweise ausgelassen wird, wird hingenommen, denn das nicht beweis-, überprüf- und widerlegbare Wissen wird von manchen Wissenschaftszweigen gerne als ein Laster unserer Psyche, als ein Überbleibsel unseres Kleinhirns, als mythengläubiger, emotionaler und instinkthafter Haufen an Irrlehren abgewertet und verworfen. Was uns die Russen durch deren polaristische Denkart (die leicht mit der dualistischen verwechselbar ist) oder Mentalität (man will vielleicht gar sagen: Seele) zeigen, ist nicht bessere Beweisbarkeit und dergleichen, sondern ein beweglicheres Herangehen an das mögliche Wissen, und ein beweglicheres Gebrauchen des Denkens. Das polaristische Denken, das heisst die Gleichzeitigkeit von grundsätzlich Polarem (z.B. Intellekt-Natur, Form-Wesen, usw), nicht einfach zwei Extremen derselben Art (z.B. schwarz-weiss, ja-nein), kann auch dem unzähligen Fallen unterlegenen politischen Denken helfen.
Was auch immer in der Gegenwart im Westen durch unsere geschichtsfeindlichen Wettbewerbs- und Empörungsmedien über Russland behauptet und geglaubt werden mag: weniges davon ist wahr, und vieles mag auch eine Projektion unserer eigenen, aufkommenden Probleme sein. Aus diesem Grund sei mit einem solchen Artikel eine Näherung an die “russische Seele” gewagt, denn es schadet nicht für das Gute und Wahre einzustehen, besonders dann, wenn es durch die im Moment prävalente Ideologie nicht gerade einfach ist. Und da die Art der russischen Seele (das Gegenartige willkommen zu heissen) für die Bewegung des Menschen innerhalb der verschiedenen Weltanschauungen sehr günstig ist, wird diese Seele hier gelobt, auch wenn der eifrige Leser von Simplexmedien (d.i. Kommunikation, in der das Signal in nur eine Richtung gehen kann, z.B. Fernseher; anders als das Internet, das ‘multiplex’ ist) sich vielleicht schon lange angewidert abgewendet haben mag9.
Das Loslassen
Wie also sollte in besserer Weise über Politik nachgedacht werden? Abgesehen vom Selbstbild, das sich nicht über andere stellen darf, ist es heute (und vielleicht generell) ein guter Instinkt davon auszugehen, dass offizielle Narrative das Wahre in gezielter Weise eingrenzen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Das heisst nicht, dass offizielle Narrative falsch sein müssen, oder dass die Ziele schlecht zu sein haben, sondern lediglich, dass das Wahre für sich nichts Offizielles sein kann, weil das Wahre immer Nuance hat, und nuancierte Analyse niemals eine bedeutende Wirkung auf eine jeglichste Öffentlichkeit haben kann, wodurch keine politischen Ziele erreicht werden können (siehe als negatives Beispiel etwa die Koronakrise der vergangenen Jahre, und die nuancenfreie, allgemeine Nötigung zu Gentherapie, Gesichtsmasken und Abstand/Isolation, wo zwischen Gefährdeten und Ungefährdeten kein Unterschied gemacht wurde). Es kann auch zu anderen Narrativen gegangen werden, mit der Haltung, dass ein anderes Narrativ richtig zu sein hat, wenn das der eigenen Seite als nicht richtig bewertet wird. Auch das führt notwendigerweise zu einer Verengung des Wirklichen. So sollten die Narrative des Westens nicht einfach zugunsten der Narrative eines Anderen aufgegeben werden. Als ein erster Schritt ist es durchaus angebracht das andere Narrativ anzunehmen, um überhaupt verstehen zu können was die andere Seite sagt, aber dann muss man wieder loslassen können. Obiges versucht die andere (die russische) Seite zu zeigen; es geht dabei aber nicht sowohl über die eigene wie auch die andere Seite hinaus, sondern es wird durch Obiges ein Narrativ gezeigt, das bei uns verschwiegen wird, zu dem es dann aber möglich sein muss, davon wieder loszulassen – zugunsten eigener Gedanken. Das Obige soll ein bisschen ungemütlich sein, damit das Andersartige nicht so einfach überflogen werden kann. Dies, weil es niemanden erreicht nuanciert zu schreiben, wenn die Perspektive des Anderen nicht einmal gekannt wird (ein Problem, das durch unsere partisanen Massenmedien enorm verstärkt wird, das wiederum nicht erkannt wird, weil die Massenmedien nicht als partisan erkannt werden). Die Perspektive der anderen kann helfen von der unseren zu befreien, wenn es die eigenen Gedanken allein nicht schaffen.
So kann über Politik nachgedacht und gesprochen werden, wenn beide Seiten mindestens vom Eigenen loslassen, und sich auf das Andere einlassen können. Wenn einem bewusst ist, dass man bei politischen Themen vor allem über Narrative spricht, dass bestimmte Begriffe (Rebell – Terrorist, Präsident – Tyrann, Widerstand – Destabilisierung usw) bestimmten Narrativen dienen, und dass es auf der Welt keine Medien gibt, die ab einer gewissen Grösse nicht die Verlängerung vom Arm des Politischen (oder eben Apolitischen) sind, um mehr Reichweite zum Volk zu bekommen. Dann kann (zuerst) ohne Urteil darüber gesprochen werden was dieses Narrativ behauptet, oder was jenes behauptet, wo das eine Wahres behauptet, und wo das andere Wahres behauptet, und schliesslich, was denn nun die eigenen Gedanken sind.
Man kann aber auch Zeit verschwenden, und so spricht der eine über die Schlechtigkeit des anderen, und der andere spricht über die Schlechtigkeit des einen, und es wird mit Worten geworfen die bereits schon Urteile in sich tragen – so wie oben der Ukrainekonflikt implizit gegen die Amerikaner (und Kohorten) und zugunsten der Russen dargestellt wird. Mit einer Basis im Realen, mit der Dialogpartner beidseits einverstanden sind, ist dann die Erhöhung der einfachen Ideen hin zu abstrakteren Konzepten möglich. Beginnt man aber bereits bei der Vogelperspektive, so entsteht mit jedem praktischen Beispiel die Gefahr des Streites, weil nicht etabliert wurde, wie mit all den praktischen Narrativen umgegangen werden sollte.
Referenzen, Anmerkungen
- Damit ist gemeint, dass das Einschätzen der Wahrscheinlichkeit, einer Vielfalt oder Einheitlichkeit im Denken einer Mehrzahl von Menschen zu begegnen schwierig ist. Manchmal denken alle gleich, manchmal alle anders, und bei letzteren kann die Andersartigkeit jede Breite abdecken. Der Verständlichkeit halber ist in hier mit der ‘Willkür der Vielfalt der Psychen’ nur die ‘Willkür der Psyche’ gemeint. ↩
- Ganz besonders nicht wenn heute, nach achzig Jahren, wieder deutsche Panzer an der Grenze zu Russland auflaufen um russische Soldaten zu töten. Fast noch tragischer und bedrückender als diese Tatsache, finde ich das Schweigen dazu. Und wenn man die Filmchen derjenigen sieht, die diese deutschen Panzer in den Donbass fahren, die Wolfsangelflaggen und dergleichen Symbolismus daran anhängen, könnte einem schlecht werden. Zu solchem Abschaum sind wir geworden. Ich mag mir gar nicht ausmahlen wie bitter sich diese Zeichen für die Russen anfühlen müssen. ↩
- https://de.wikipedia.org/wiki/Leningrader_Blockade ↩
- Ob es Satire ist, mit den Kakaokühen? Schön wärs: https://www.youtube.com/watch?v=-jsqm3hfxRc. Ob sonst irgendwo in der Welt irgendjemand derlei Aufklärung brauchen kann? ↩
- siehe z.B Josep Borrell, einer der höchsten EU-Funktionäre, der Europa wiederholt als Garten, und (fast) alles andere als Jungel bezeichnet; eine unbegreiflich weltfremde Haltung (und zugegebenermassen ein Strohmann, da Borrell bestimmt auch gute, oder zumindest gut gemeinte Dinge sagt), zu der aber leider gut möglich ist, dass ihr viele europäische Funktionäre in ihrer jeweiligen Weltfremdheit zustimmen. ↩
-
- Die acht Jahre Krieg vor dem 24. Februar 2022, mit bis zu 14’000 Toten im Raum des ethnisch oder mindestens kulturell russischen Donbass, werden folglich ausgeklammert oder mit “er sagt sie sagt” relativiert, und der Beginn des Konflikts wird mit den tausendfach repetierten Worten “russischer Angriffskrieg” auf jenen 24. Februar gesetzt (ein Begriff der wohl verwendet werden könnte, wenn die USA nicht seit mindestens 2008 bis zum Hals in der Ukraine involviert wäre).
- Die endlos selbst unter westlichen Strategen und Militärs schon lange vor dem Fall der Sowjetunion öffentlich beschriebene und debattierte Geostrategie der Amerikaner gegenüber Syrien, dem Iran und Russland wird ausgeklammert.
- Die seit 2014 jährlich mindestens 10’000 zu NATO-Standard ausgebildeten ukrainischen Soldaten (und höheren Ränge) werden kleingeredet, ignoriert oder abgestritten.
- Die für Russland in mehreren vergangenen Kriegen kritische Halbinsel Krim wird nirgendwo in deren bedeutenden historischen Relevanz für Invasoren erwähnt (siehe z.B. Dora-Geschütz, eine gewaltige Investition im zweiten Weltkrieg).
- Das landesweite Verbot, oder der Versuch dessen, von russischer Sprache und Kultur in der Bildung und öffentlichen Einrichtungen in selbst mit grosser Mehrheit ethnisch oder kulturell russischen Gebieten innerhalb der Ukraine durch Kiew, wird in einem Meer irrelevanter Aktualitäten ertränkt.
- Die mindestens seit 2008 und vor 2022 unzähligen, auf jeder Ebene geäusserten, unmissverständlichen Warnungen Russlands sowohl zu Georgien wie auch zur Ukraine bezüglich NATO werden kleingeredet (“Die NATO ist keine Gefahr für Russland.”).
- Die fast exakte Präzedenz der Unabhängigkeit des Kosovo vis-à-vis der versuchten Unabhängigkeit der Oblaste der Ostukraine (Krim, Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson) wird keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, und die Abstimmungen werden als ungültig verworfen, teils bevor die Zählung überhaupt beginnt.
- Der Brand der Handelsunion in Odessa wird im Westen bis heute als ambivalent missrepräsentiert oder komplett ignoriert.
- Die Statuen Stepan Banderas in der Westukraine und die staatlich-öffentliche Designation seiner Kompatrioten als Helden werden als russische Desinformation verdreht, schlichtweg ignoriert oder dann kleingeredet.
- usw usf.
- Russische Seele: Русская душа (Russkaja duscha), zumeist wird nur von der Русский мир (Russki mir – Russische Welt; es empfiehlt sich hier im Interesse der Sachlichkeit den russischen Artikel zu kopieren und in Google Translate einzufügen, da der deutsche Wikipediaartikel, wie es mehr und mehr der Fall ist, eine propagandistische Wüste ist) gesprochen, um das kulturell ‘Russische’ durch wettbewerbspolitisches Denken zu verzerren, und sich auf einen Strohmann fokussieren zu können. ↩
- Hat man die Wahl zwischen ‘plausibel’ und ‘mehr beweisbar’, wird folglich ‘mehr beweisbar’ gewählt. ↩
- Sayonara, Sayonara. ↩