Der Mann im Beistragsbild ist René Descartes, einer der ‘frühneuzeitlichen’ Rationalisten.
Vernunft ist die übergeordnete Fähigkeit, in sich einerseits Begriffe und Ideen wirken zu lassen, und andererseits selbige selber zu formen. Der Verstand ist der Vernunft untergeordnet, und ist dasjenige, das wir gebrauchen, wenn wir mit dem präfrontalen Kortex, dem vordersten Vorderhirn, denken. Rationalisten sind häufig Verstandesmenschen. Um den Verstand und wie dieser die Geschichte der Menschheit versteht, soll es hier gehen.
Ein Wesen das keinen Verstand hat, ist z.B. das Pferd. Was auch immer der Befehl an das Pferd sein mag: solange der Befehl nicht durch einen Angstzustand überschrieben, oder durch ein Unverständnis verzerrt wird, wird er ausgeführt. Muss das Pferd zwischen zwei Angstzuständen entscheiden, so folgt es dem allerersten Instinkt. Wenn es sich erschrickt, und sich in der Angst aufbäumt, um dem Instinkt ‘sich vor dem Feind gross machen’ nachzukommen, und beim Aufbäumen ein Reiter auf dem Rücken ist, so kann es geschehen, dass das Pferd auf den Rücken fällt und sich den Hals bricht. Das ist sehr unvernünftig. Es hat nicht den Verstand, um ein Problem zu lösen, was manche Probleme nur noch schlimmer macht. Viele Fluchttiere sind so.
Kann ein Mensch sich in seinem bewussten Denken gegen die einströmenden Eindrücke behaupten, so kann ‘Verstand’ da sein. Sonst ist er fluchttierartig.
Der Verstand hat nun seine Schattenseite, und das ist das überbewusste Denken. Ein Überlegen, das mit den inneren Gefühlen im Einklang ist, hat weit mehr Tiefe, als der reine Verstand, der sich eher im Moment befindet, und der zu lösen sucht, was sich vor ihm vorfindet.
Die Welt ist sehr alt, und auch die Menschheit hat sehr, sehr viel Geschichte. Da ist über endlos viele Generationen die Anzahl der Menschen angewachsen, wohlhabend geworden, wieder geschrumpft, durch Katastrophen beinahe vernichtet, wieder angewachsen usw. Immer wieder, Runde um Runde hat die Menschheit als Ganzes gewisse Dinge durchmachen müssen. Diese Geschichte ist im Menschen drinnen, das ist da irgendwo gespeichert. Und es wurde in den Menschen praktisch ‘eingeschrieben’, mit dem endlosen wiederholen der vielen, mit tiefem Symbolismus bereicherten Geschichten, welche man den jüngeren Generationen mit Wortgetreue erzählte. Man kann fast sagen, dass die Wahrheit dieser Geschichten eine ‘biologische’ Wahrheit ist. Der Amerikaner Randall Carlson ist einer, der Beweise zusammen sucht, welche belegen sollen, wie dies der Fall ist, wie die Menschheit, oder zumindest grosse Teile davon, wiederholt gewaltige Katastrophen überleben musste. Er untersucht auch, was in den alten Geschichten an offener und verschlüsselter Wahrheit zu finden ist.
Diese Geschichten, oder besser Erzählungen, hatten einerseits einen historischen Charakter. Wenn der Symbolismus im Vordergrund steht, so spricht man vom Märchen, etwas, das heute ein als abwertend gesehen wird. Die Erzählungen sollten den jüngeren Generationen von Ereignissen von lange vergangenen Epochen oder Zeitaltern, erzählen, um den Menschen nicht von seinen Ursprüngen abzureissen. So wurde ihm, diesem über die Erzählungen lernenden Menschen, dieser gewaltige Kontext gegeben, mit dem er verbunden ist, ohne dass ihm dies erstmals bewusst sein muss. Andererseits hatten diese Geschichten die Aufgabe, dem Menschen etwas über den Menschen zu erzählen, nicht nur geschichtlich, auch davon, was der Mensch in seinem tiefsten Wesen archetypisch ist. So sind diese alten Geschichten jene Form der WA, welche möglich war, mit dieser, obwohl mündlichen, dennoch sehr exakten Art des Überlieferns. Ohne Schrift hatte der Mensch jener Zeit eine andere Art des Erinnerns, dazu wurde genau geschaut, wer der jungen die nötigen Fähigkeiten für das exakte Wiedergeben von Erzählungen mit sich bringt. Man schulte den Menschen darin, die Geschichten auf das Wort genau wiedergeben zu können. Die alten Griechen kannten diese Geschichten noch. Die alten Römer interessierten sich jedoch nicht mehr so sehr dafür, und so gingen mit ihrer Kultur manche dieser Geschichten offenbar erstmals vergessen. Die alten Römer hatten das Gefühl, dass sie die Physis studieren mussten, nicht dass sie einander alte Märchen erzählen sollten. Manche Geschichten wurden dann ohne Interesse überliefert. Sie wurden nur noch bestimmter Traditionen wegen weiter gegeben, wodurch das Verständnis davon zu leiden begann, und nach und nach verloren ging. Dies bewirkte, dass manche Geschichten wortwörtlich genommen wurden, oder dass sie hinterfragt wurden, dass sie nicht mehr wortgetreu überliefert wurden, dass die tiefere Bedeutung nicht mehr überliefert wurde usw. In diesen alten Geschichten finden sich Psychismus genauso wie Dynamismus, es findet sich der Sensualismus, der Realismus, alle WA sind in diese alten, weisen Geschichten hineinverwoben.
Der Verstand ist viel stärker im Moment drinnen, als es die alte Weisheit war. Er hilft uns im Alltag, all die einfachen Probleme zu lösen, die uns stets begegnen. Und er hilft uns gleichsam die komplexen Probleme zu lösen, wie mit dem Ausschlussverfahren und dergleichen. Aber er geht nicht bis zu den tiefen, alten Wahrheiten, welche durch vielleicht tausende Generationen an Vorfahren der Menschheit überliefert wurden. Irgendwann, in nicht allzu ferner Vergangenheit, begann der Mensch den Verstand zu zelebrieren. Man begann, die ‘objektive’ Erkenntnis hervor zu heben, gegen das heute als altes, träumerisches, rückwärts gewandte verstandene Denken. So jedenfalls wurden die alten Geschichten von den neuen Verstandesmenschen beurteilt. Der Verstandesmensch sah mit seinen hohen ethischen Werten, wie in diesen alten Geschichten getötet, gefoltert, gekriegt wurde, wie die Menschen einander die scheusslichsten Dinge antaten. Der Respekt vor dem Leben ist heute sehr viel weiter entwickelt, als er es früher war, und so fragte sich der Verstandesmensch nun, warum diese alten Weisen nicht schöne Geschichten, mit reinen Tugenden erzählten, sondern diese Schreckgeschichten, mit der Hölle (die Hölle ist eine uralte, symbolische Idee, manche denken fälschlicherweise, es sei eine neuere Erfindung der grossen monotheistischen Religionen), Dämonen, mit dem Zorn Gottes, mit all diesen blutigen Undingen eines wilden Altertums. Und so urteilte der Verstandesmensch, dass diese alte Welt eine kindliche war, in der der Mensch ohne Ideal, ohne moralische Richtschnur einer Art Höhlenmenscheninstinkt folgte.
Dieses Urteil war und ist ein grundfalsches. Der Verstandesmensch verglich, was er mit der Gegenwart, in der der Verstand aufblühte vor sich hatte, und was er mit der Gegenwart und deren Technik und Institutionen vor sich hatte, und er urteilte weiter, dass der Verstand dasjenige ist, das aus dem dumpfen Menschen heraus gewachsen ist, und ihn endlich zur hohen, technischen Zivilisation der Gegenwart führte.
Der Mensch war jedoch nicht dieses dumpfe Wesen, das sich bloss mit Knüppel und Wurfstein gegen die nächste Sippe wehrte, wie der Verstandesmensch vielleicht gerne denkt. Der Mensch, respektive die Anführer, waren vielmehr durch unzählige Jahrtausende sehr erfahren darin, die richtigen Lektionen aus den alten Erzählungen zu lernen. Und diese alten Geschichten brauchten nicht diese zuckersüsse Ästhetik, welche der moderne Mensch sich für eine tolle Geschichte womöglich wünscht, sie mussten vielmehr tiefste, auch unangenehme, Wahrheit überbringen. Das war ihre grundlegende Aufgabe. Man mag denken, dass dies doch durch eine schöne Geschichte genauso gut geschehen kann, aber das stimmt nicht. Der Mensch ist schön und nett, solange die Umstände dies begünstigen. Aber wenn es einmal bergab geht, so kommen die Gefahren auf. Der Mensch braucht den Wegweiser nicht für die tollen, gemütlichen Zeiten, wie wir sie in der Gegenwart haben, er braucht ihn vor allem dann, wenn es ums Überleben geht. Und wenn man erst einmal Menschen vor sich hat, welchen das Leben ihres Nächsten in ihrem Hunger weit weniger Wert ist als ein Stück Brot, so werden diese Wegweiser ihre Bedeutung augenblicklich entfalten. Schöne Ideale wird man in dem Moment sofort vergessen, aber an harte, dogmatische Dinge wie die zehn Gebote wird man sich erinnern können, weil sie einfach sind, weil sie in dem Moment anwendbar sind, weil sie nur das Überleben von genügend Menschen garantieren müssen.
Das kann man sich wohl kaum ausmahlen, was das für Gräuel sind, wenn alles im Krieg ist, und durch Naturkatastrophen, durch Krankheit, durch Tyrannei alles zugrunde geht. Wenn es keinen Ort gibt, an den man fliehen kann, um in Sicherheit zu sein, wo man einfach ausharren, aushalten muss, ohne ein Ende des Leidens in Sichtweite zu haben, so ist das eine ganz andere Welt in der man lebt. So mag man die alten Geschichten in jenen Zeiten verspotten, wo man nicht in dieser Situation ist. Und man muss sich fragen, wie oft der Mensch in der Vergangenheit schon dachte, er sei der ‘erstmals Vernüftige’, zivilisierte, nicht-tierische, nicht-barbarische, und all die Schreckgespinster dieser unterdrückerischen, humorlosen Patriarchen aus der alten Welt seien nichts mehr als solche. Und dann kam der Meteorit, oder die Flut, oder das Feuer, oder die Seuche, oder der Vulkan, oder das Erdbeben, und auf einmal waren alle in Panik, und rannten wie kopflose Hühner herum, und töteten den anderen Menschen augenblicklich, wenn sich die kleinste Gelegenheit bot. Und auf einmal schlugen die alten Geschichten wieder in ihrer vollen Bedeutung im Gedächtnis der Menschen ein, und man achtete wieder sorgsam darauf, dass alle Kinder sie auch wirklich verstanden. Dieses Spielchen hat sich bestimmt unzählige Male wiederholt. Ohne diese Wegweiser gäbe es heute vielleicht keine Menschheit.
Der Verstand hat uns also sehr weit gebracht, aber er hat auch seine Eitelkeit. Und in Bezug zur Geschichte der Menschheit kann man, wenn man dafür offen ist, sehen, wie sich das zeigen kann.
Der Verstand ist also nicht nur gut und nützlich, er ist mit der Zeit auch etwas hochmütig. So durch den Verstand bestimmt, lässt man heute die Weisesten der Gesellschaft alleine in betreuten Wohnblöcken vor sich dahinleben, bis sie wegsterben, anstatt sie ihre eigentlich wertvollen Erfahrungen und Erkenntnisse auf die jüngsten, auf die Kinder übertragen zu lassen. Stattdessen bezahlt man junge Frauen dafür, einen Haufen Kinder unter Kontrolle zu halten, während man andere junge Frauen dafür bezahlt, dass sie sich um die Alten kümmern, sie mit irgendwelchen Aktivitäten zu beschäftigen, oder den Fernseher im Gemeinschaftsraum zum Laufen bringen usw. Haben wir in der Moderne zu viele junge Frauen und keine Weisen? Was überlegen sich die Familien, wenn sie der Kindertagesstätte oder dem Hort Geld geben, um das Gör beschäftigt zu halten, und deneben dem Altersheim Geld geben, um der noch übrigen Grossmutter über ein Jahrzehnt lang Sterbebegleitung zu gewähren? Was man sich im Leben zurecht rationalisieren kann, ist so wundersam wie es manchmal bedenklich ist.
Die Geschichte des Altertums, die Geschichte vor den alten Griechen, ist eine mysterische Kiste, eine ‘Blackbox’, welche kaum etwas von sich zu geben scheint. Und selbst wenn der Mensch der Vergangenheit grosse Zivilisationen hatte, welche im Meer, im Boden, in der Zeit, im Magma, im Feuer, im Geröll usw. verschwunden sind, so kann man dennoch nicht sagen, dass nun einfach der nächste Zyklus an der Reihe ist. Auch wenn sich die Geschichte grob wiederholt, so ist sie dennoch jedes Mal etwas anders.
Was diesmal anders ist, ist, dass der Mensch mit der Entwicklung von seinem Ich etwas weiter ist. Der Mensch hat sich aus dem eher kollektiven Bewusstsein heraus gehoben, und wurde mehr sich selber, er wurde mehr zum Individuum. Die Entwicklung des Ich unterliegt, anders als Zivilisationen, keinem Zyklus. Beim Ich finden wir diese lineare Entwicklung, welche der Rationalismus stattdessen gerne auf all jenes anwendet, das eben doch ein Auf und Ab durchmacht. Dass das Ich des Einzelnen schwächer entwickelt war bedeutet nicht, dass die Zivilisationen der Allgemeinheit im Altertum, der modernen Zivilisation mit dem Individualismus in irgendwas (ausser Technologie) nachsteht.
Mit dem Individualismus kam etwas Neues in die Welt. Und damit haben die alten Geschichten durchaus nicht mehr die Bedeutung, die sie einst hatten. So ist das alte Testament ein Dokument aus der alten Zeit, und es hat für die Zeit des Individualismus nicht mehr die gleiche Gültigkeit, wie es einst hatte. So sollte nun das Neue Testament studiert werden, das mit diesem Individualismus Hand in Hand geht. Dennoch sollte man die alten Geschichten nicht verlachen, und daran denken, dass da grösste Wahrheit versteckt war.