Grosse Denker über WA: Martin Heidegger

Heidegger hat seinen Namen, und damit leider wohl auch sein Werk, durch seine Involvierung mit der nationalsozialistischen Bewegung untergraben. Dennoch sollten Gedanken unabhängig von politischen Ideen berücksichtigt werden, denn der politische Kontext hat für philosophische Gedanken nicht im Zentrum stehen, sondern der eigentliche Inhalt. Sonst gibt man Politik mehr Wichtigkeit als der Philosophie, und nichts könnte verkehrter sein. Es wäre auch möglich, Heidegger ganz vorsichtig zu lesen, und zu schauen, was er denn wirklich sagt in seinen öffentlichen Reden, wo Politik berührt werden muss, und man kann bemerken, wie darin kaum merklich allerlei äusserst subtile, fast okkulte Kritik gegen die politischen Umstände seiner Gegenwart hineinverwoben ist, was jedoch wohl von kaum jemandem in seiner Audienz gehört wurde, weil die Worte, die er wählte, dem Klang nach stets jenen entsprachen, die man von einem so hoch gebildeten politischen Akteur erwarten würde, nur wird ihre Bedeutung durch den Kontext des jeweiligen Vortrages im Verdeckten in ihr Gegenteil verdreht. Die Audienz wird gegähnt haben, ob all dieser, typisch heidegger’schen, verschachtelten Sätze und überbewussten Begriffe, die sanft, fast hypnotisch, über sie hereinrieselten. Allerdings ist eine solche differenzierte Betrachtung über etwas, das man nur sehr schwerlich sehen kann, von niemandem zu erwarten, bestimmt nicht von der Öffentlichkeit, und so geht man generell halt davon aus, dass man Heidegger entweder kritisieren oder von Politik trennen muss, wenn man seine Philosophie ernst nehmen will, und man muss in Kauf nehmen, dass für viele Menschen eine einfache Trennung nicht akzeptabel ist. So wird er einleitend halt immerzu kritisiert.

Da es in diesem Artikel um den Begriff ‘Weltanschauung’ geht, und in diesem Artikel nicht nur jener, der seine Gedanken zum Begriff formuliert hat, mit den Nationalsozialisten in Verbindung stand, sondern auch der Begriff selber von dieser Gruppe gerne verwendet wurde, begibt man sich mit einer solchen Besprechung womöglich auf noch einmal dünneres Eis. Dennoch ist die Geschichte des Begriffs, d.i. der Idee, in Verbindung mit diesen Menschen nicht einfach wegzudenken. Und weil sie dazu gehört, wird sie hier auch aufgeführt, welche politischen Ideen auch immer sich darum herum bewegt haben mögen.

So schreibt Heidegger die Schrift “Die Zeit des Weltbildes” im Werk “Holzwege” wie folgt:

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“DIE ZEIT DES WELTBILDES

In der Metaphysik vollzieht sich die Besinnung auf das Wesen des Seienden und eine Entscheidung über das Wesen der Wahrheit. Die Metaphysik begründet ein Zeitalter, indem sie ihm durch eine bestimmte Auslegung des Seienden und durch eine bestimmte Auffassung der Wahrheit den Grund seiner Wesensgestalt gibt. Dieser Grund durchherrscht alle Erscheinungen, die das Zeitalter auszeichnen. Umgekehrt muß sich in diesen Erscheinungen für eine zureichende Besinnung auf sie der metaphysische Grund erkennen lassen. Besinnung ist der Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen (1).

Zu den wesentlichen Erscheinungen der Neuzeit gehört ihre Wissenschaft. Eine dem Range nach gleich wichtige Erscheinung ist die Maschinentechnik. Man darf sie jedoch nicht als bloße Anwendung der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft auf die Praxis missdeuten. Die Maschinentechnik ist selbst eine eigenständige Verwandlung der Praxis derart, daß diese erst die Verwendung der mathematischen Naturwissenschaft fordert. Die Maschinentechnik bleibt der bis jetzt sichtbarste Ausläufer des Wesens der neuzeitlichen Technik, das mit dem Wesen der neuzeitlichen Metaphysik identisch ist. Eine dritte, gleich wesentliche Erscheinung der Neuzeit, liegt in dem Vorgang, daß die Kunst in den Gesichtskreis der Ästhetik rückt. Das bedeutet: Das Kunstwerk wird zum Gegenstand des Erlebens, und demzufolge gilt die Kunst als Ausdruck des Lebens des Menschen.

Eine vierte neuzeitliche Erscheinung bekundet sich darin, daß das menschliche Tun als Kultur aufgefaßt und vollzogen wird. Kultur ist dann die Verwirklichung der obersten Werte durch die Pflege der höchsten Güter des Menschen. Im Wesen der Kultur liegt es, als solche Pflege ihrerseits sich in die Pflege zu nehmen und so zur Kulturpolitik zu werden.

Eine fünfte Erscheinung der Neuzeit ist die Entgötterung. Dieser Ausdruck meint nicht die bloße Beseitigung der Götter, den groben Atheismus. Entgötterung ist der doppelseitige Vorgang, daß einmal das Weltbild sich verchristlicht, insofern der Weltgrund als das Unendliche, das Unbedingte, das Absolute angesetzt wird, und daß zum anderen das Christentum seine Christlichkeit zu einer Weltanschauung (der christlichen Weltanschauung) umdeutet und so sich neuzeitgemäß macht. Die Entgötterung ist der Zustand der Entscheidungslosigkeit über den Gott und die Götter. An seiner Heraufführung hat das Christentum den größten Anteil. Aber die Entgötterung schließt die Religiosität so wenig aus, daß vielmehr erst durch sie der Bezug zu den Göttern sich in das religiöse Erleben abwandelt. Ist es dahin gekommen, dann sind die Götter entflohen. Die entstandene Leere wird durch die historische und psychologische Erforschung des Mythos ersetzt.

Welche Auffassung des Seienden und welche Auslegung der Wahrheit liegt diesen Erscheinungen zugrunde?

Wir beschränken die Frage auf die zuerst genannte Erscheinung, auf die Wissenschaft. Worin liegt das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft?

Welche Auffassung des Seienden und der Wahrheit begründet dieses Wesen? Gelingt es, auf den metaphysischen Grund zu kommen, der die Wissenschaft als neuzeitliche begründet, dann muß sich von ihm aus überhaupt das Wesen der Neuzeit erkennen lassen.

Wenn wir heute das Wort Wissenschaft gebrauchen, meint es etwas, das sich von der doctrina und scientia des Mittelalters, aber auch von der griechischen επιστήμη [episteme] wesentlich unterscheidet. Die griechische Wissenschaft war niemals exakt und zwar deshalb, weil sie ihrem Wesen nach nicht exakt sein konnte und nicht exakt zu sein brauchte. Daher hat es überhaupt keinen Sinn zu meinen, die neuzeitliche Wissenschaft sei exakter als die des Altertums. So kann man auch nicht sagen, die Galileische Lehre vom freien Fall der Körper sei wahr und die des Aristoteles, der lehrt, die leichten Körper strebten nach oben, sei falsch; denn die griechische Auffassung vom Wesen des Körpers und des Ortes und des Verhältnisses beider ruht auf einer anderen Auslegung des Seienden und bedingt daher eine entsprechend verschiedene Art des Sehens und Befragens der Naturvorgänge. Niemand läßt sich beikommen zu behaupten, Shakespeares Dichtung sei fortgeschrittener gegenüber der des Aischylos. Noch unmöglicher ist es aber zu sagen, die neuzeitliche Erfassung des Seienden sei richtiger als die griechische. Wollen wir daher das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft begreifen, dann müssen wir uns zuvor von der Gewohnheit befreien, die neuere Wissenschaft gegen die ältere lediglich gradweise, nach dem Gesichtspunkt des Fortschritts, abzuheben.

Das Wesen dessen, was man heute Wissenschaft nennt, ist die Forschung. Worin besteht das Wesen der Forschung?

Darin, daß das Erkennen sich selbst als Vorgehen in einem Bereich des Seienden, der Natur oder der Geschichte, einrichtet. Vorgehen meint hier nicht bloß die Methode, das Verfahren; denn jedes Vorgehen bedarf bereits eines offenen Bezirkes, in dem es sich bewegt. Aber gerade das Öffnen eines solchen Bezirkes ist der Grundvorgang der Forschung. Er vollzieht sich dadurch, daß in einem Bereich des Seienden, z. B. in der Natur, ein bestimmter Grundriß der Naturvorgänge entworfen wird. Der Entwurf zeichnet vor, in welcher Weise das erkennende Vorgehen sich an den eröffneten Bezirk zu binden hat. Diese Bindung ist die Strenge der Forschung. Durch den Entwurf des Grundrisses und die Bestimmung der Strenge sichert sich das Vorgehen innerhalb des Seinsbereiches seinen Gegenstandsbezirk. Ein Blick auf die früheste und zugleich maßgebende neuzeitliche Wissenschaft, die mathematische Physik, verdeutlicht das Gemeinte. Insofern auch die moderne Atomphysik noch Physik bleibt, gilt das Wesentliche, worauf es hier allein abgesehen ist, auch von ihr.

Die neuzeitliche Physik heißt mathematische, weil sie in einem vorzüglichen Sinne eine ganz bestimmte Mathematik anwendet. Allein, sie kann in solcher Weise nur mathematisch verfahren, weil sie in einem tieferen Sinne bereits mathematisch ist. Τά μαθήματα [Ta mathemata] bedeutet für die Griechen dasjenige, was der Mensch im Betrachten des Seienden und im Umgang mit den Dingen im voraus kennt: von den Körpern das Körperhafte, von den Pflanzen das Pflanzliche, von den Tieren das Tiermäßige, vom Menschen das Menschenartige. Zu diesem schon Bekannten, d. h. Mathematischen, gehören neben dem Angeführten auch die Zahlen. Wenn wir auf dem Tisch drei Äpfel vorfinden, dann erkennen wir, daß es deren drei sind. Aber die Zahl drei, die Dreiheit, kennen wir schon. Das besagt: Die Zahl ist etwas Mathematisches. Nur weil die Zahlen das gleichsam aufdringlichste Immer-schon-Bekannte und somit das Bekannteste unter dem Mathematischen darstellen, deshalb wurde alsbald das Mathematische als Benennung dem Zahlenmäßigen vorbehalten. Keineswegs aber wird das Wesen des Mathematischen durch das Zahlenhafte bestimmt. Physik ist allgemein die Erkenntnis der Natur, im besonderen dann die Erkenntnis des stofflich Körperhaften in seiner Bewegung; denn dieses zeigt sich unmittelbar und durchgängig, wenn auch in verschiedener Weise, an allem Naturhaften. Wenn nun die Physik sich ausdrücklich zu einer mathematischen gestaltet, dann heißt das : Durch sie und für sie wird in einer betonten Weise etwas als das Schon-Bekannte im vorhinein ausgemacht. Dieses Ausmachen betrifft nichts Geringeres als den Entwurf dessen, was für das gesuchte Erkennen der Natur künftig Natur sein soll: der in sich geschlossene Bewegungszusammenhang raum-zeitlich bezogener Massenpunkte. In diesem als ausgemacht angesetzten Grundriß der Natur sind unter anderem folgende Bestimmungen eingetragen: Bewegung besagt Ortsveränderung. Keine Bewegung und Bewegungsrichtung ist vor der anderen ausgezeichnet. Jeder Ort ist jedem anderen gleich. Kein Zeitpunkt hat vor einem anderen einen Vorzug. Jede Kraft bestimmt sich nach dem, d. h. ist nur das, was sie an Bewegung und d.h. wieder an Ortsveränderungsgröße in der Zeiteinheit zur Folge hat. In diesen Grundriß von Natur muß jeder Vorgang hineingesehen werden. Im Gesichtskreis dieses Grundrisses wird ein Naturvorgang erst als ein solcher sichtbar. Dieser Entwurf der Natur erhält dadurch seine Sicherung, daß die physikalische Forschung für jeden ihrer fragenden Schritte im vorhinein an ihn sich bindet. Diese Bindung, die Strenge der Forschung, hat gemäß dem Entwurf jeweils ihren eigenen Charakter. Die Strenge der mathematischen Naturwissenschaft ist die Exaktheit. Alle Vorgänge müssen hier, wenn sie überhaupt als Naturvorgänge in die Vorstellung kommen sollen, im voraus als raum-zeitliche Bewegungsgrößen bestimmt sein. Solche Bestimmung vollzieht sich in der Messung mit Hilfe der Zahl und der Rechnung. Aber die mathematische Naturforschung ist nicht deshalb exakt, weil sie genau rechnet, sondern sie muß so rechnen, weil die Bindung an ihren Gegenstandsbezirk den Charakter der Exaktheit hat. Dagegen müssen alle Geisteswissenschaften, sogar alle Wissenschaften vom Lebendigen, gerade um streng zu bleiben, notwendig unexakt sein. Man kann zwar auch das Lebendige als eine raum-zeitliche Bewegungsgröße auffassen, aber man faßt dann nicht mehr das Lebendige. Das Unexakte der historischen Geisteswissenschaften ist kein Mangel, sondern nur die Erfüllung einer für diese Forschungsart wesentlichen Forderung. Allerdings bleibt nun auch der Entwurf und die Sicherung des Gegenstandsbezirkes der historischen Wissenschaften nicht nur von anderer Art, sondern leistungsmäßig weit schwieriger als die Durchführung der Strenge der exakten Wissenschaften.

Die Wissenschaft wird zur Forschung durch den Entwurf und durch die Sicherung desselben in der Strenge des Vorgehens. Entwurf und Strenge aber entfalten sich erst zu dem, was sie sind, im Verfahren. Dieses kennzeichnet den zweiten für die Forschung wesentlichen Charakter. Soll der entworfene Bezirk gegenständlich werden, dann gilt es, ihn in der ganzen Mannigfaltigkeit seiner Schichten und Verflechtungen zur Begegnung zu bringen. Deshalb muß das Vorgehen den Blick für die Wandelbarkeit des Begegnenden frei haben. Nur im Gesichtskreis des Immer-Anderen der Veränderung zeigt sich die Fülle des Besonderen, der Tatsachen. Die Tatsachen sollen aber gegenständlich werden. Das Vorgehen muß daher das Veränderliche in seiner Veränderung vorstellen, zum Stehen bringen und gleichwohl die Bewegung eine Bewegung sein lassen. Das Stehende der Tatsachen und die Beständigkeit ihres Wechsels als solchen ist die Regel. Das Beständige der Veränderung in der Notwendigkeit ihres Verlaufs ist das Gesetz. Erst im Gesichtskreis von Regel und Gesetz werden Tatsachen als die Tatsachen, die sie sind, klar. Tatsachenforschung im Bereich der Natur ist in sich das Aufstellen und Bewähren von Regel und Gesetz. Das Verfahren, wodurch ein Gegenstandsbezirk zur Vorstellung kommt, hat den Charakter der Klärung aus dem Klaren, der Erklärung. Sie bleibt immer doppelseitig. Sie begründet ein Unbekanntes durch ein Bekanntes und bewährt zugleich dieses Bekannte durch jenes Un-bekannte. Die Erklärung vollzieht sich in der Untersuchung. Diese geschieht in den Naturwissenschaften je nach der Art des Untersuchungsfeldes und der Erklärungsabsicht durch das Experiment. Aber die Naturwissenschaft wird nicht erst durch das Experiment zur Forschung, sondern das Experiment wird umgekehrt erst dort und nur dort möglich, wo die Naturerkenntnis sich zur Forschung umgewandelt hat. Weil die neuzeitliche Physik eine im wesentlichen mathematische ist, deshalb allein kann sie experimentell sein. Weil nun aber weder die mittelalterliche doctrina noch die griechische επιστήμη [episteme] Wissenschaft sind im Sinne der Forschung, deshalb kommt es dort nicht zum Experiment. Zwar hat Aristoteles erstmals begriffen, was εμπειρία (experientia [buchstäblich jedoch: empeiria]) heißt: das Beobachten der Dinge selbst, ihrer Eigenseihaften und Veränderungen unter wechselnden Bedingungen und somit die Kenntnis der Weise, wie sich die Dinge in der Regel verhalten. Aber ein Beobachten, das auf solche Kenntnisse abzielt, das experimentum, bleibt von dem, was zur Wissenschaft als Forschung gehört, vom Forschungsexperiment, wesentlich verschieden; auch dann, wenn die antiken und mittelalterlichen Beobachtungen mit Zabi und Maß arbeiten; auch dort, wo das Beobachten bestimmte Vorrichtungen und Werkzeuge zuhilfe nimmt. Denn hierbei fehlt durchgängig das Entscheidende des Experiments. Dieses beginnt mit der Zugrundelegung eines Gesetzes. Ein Experiment ansetzen heißt: eine Bedingung vorstellen, dergemäß ein bestimmter Bewegungszusammenhang in der Notwendigkeit seines Ablaufs verfolgbar und d.h. für die Berechnung im voraus beherrschbar gemacht werden kann. Das Ansetzen des Gesetzes aber vollzieht sich aus der Hinsicht auf den Grundriß des Gegenstandsbezirkes. Dieser gibt das Maß und bindet das vorgreifende Vorstellen der Bedingung. Solches Vorstellen, worin und womit das Experiment anhebt, ist kein beliebiges Einbilden. Deshalb sagte Newton: hypotheses non fingo, die Zugrundelegungen sind nicht willkürlich erdacht. Sie sind aus dem Grundriß der Natur entfaltet und in diesen eingezeichnet. Das Experiment ist jenes Verfahren, das in seiner Anlage und Durchführung vom zugrundegelegten Gesetz her getragen und geleitet wird, um die Tatsachen beizubringen, die das Gesetz bewähren oder ihm die Bewährung versagen. Je exakter der Grundriß der Natur entworfen ist, um so exakter wird die Möglichkeit des Experiments. Der vielberufene mittelalterliche Scholastiker Roger Bacon kann daher niemals der Vorläufer des neuzeitlichen experimentierenden Forschers sein, sondern er bleibt lediglich der Nachläufer des Aristoteles. Denn inzwischen ist durch das Christentum der eigentliche Besitz der Wahrheit in den Glauben, in das Fürwahrhalten des Schrift-wortes und der Kirchenlehre verlegt worden. Die höchste Er-kenntnis und Lehre ist die Theologie als Auslegung des gött-lichen Wortes der Offenbarung, das in der Schrift niedergelegt ist lind durch die Kirche verkündet wird. Erkennen ist hier nicht Forschen, sondern das rechte Verstehen des maßgebenden Wortes und der es verkündenden Autoritäten. Deshalb erhält in der Erkenntnisgewinnung des Mittelalters die Erörterung der Worte und Lehrmeinungen der verschiedenen Autoritäten den Vorrang. Das componere scripta et sermones, das argumentum ex verbo ist entscheidend und zugleich der Grund dafür, daß die übernommene platonische und aristotelische Philo-sophie zur scholastischen Dialektik werden mußte. Wenn nun Roger Bacon das Experimentum fordert — und er fordert es — dann meint er nicht das Experiment der Wissenschaft als Forschung, sondern er verlangt statt des argumentum ex verbo das argumentum ex re, statt der Erörterung der Lehrmeinungen die Beobachtung der Dinge selbst, d. h. die aristotelische εμπειρία.

Das neuzeitliche Forschungsexperiment aber ist nicht nur ein grad- und umfangweise genaueres Beobachten, sondern das wesentlich anders geartete Verfahren der Gesetzesbewährung im Rahmen und im Dienste eines exakten Entwurfs der Natur. Dem Experiment der Naturforschung entspricht in den historischen Geisteswissenschaften die Quellenkritik. Dieser Name bezeichne hier das Ganze der Quellenfindung, Sichtung, Sicherung, Auswertung, Aufbewahrung und Auslegung. Die auf die Quellenkritik gegründete historische Erklärung führt zwar die Tatsachen nicht auf Gesetze und Regeln zurück. Sie beschränkt sich aber auch nicht auf ein bloßes Berichten der Tatsachen. In den historischen Wissenschaften zielt das Verfahren ebenso wie in den Naturwissenschaften darauf ab, das Beständige vorzustellen und die Geschichte zum Gegenstand zu machen. Gegenständlich kann die Geschichte nur werden, wenn sie vergangen ist. Das Beständige im Vergangenen, dasjenige, worauf die historische Erklärung das Einmalige und Mannigfaltige der Geschichte verrechnet, ist das Immer-schon-einmal-Dagewesene, das Vergleichbare. Im ständigen Vergleichen von allem mit allem wird das Verständliche herausgerechnet und als der Grundriß der Geschichte bewährt und befestigt. Nur soweit die historische Erklärung reicht, erstreckt sich der Bezirk der historischen Forschung. Das Einzigartige, das Seltene, das Einfache, kurz das Große in der Geschichte ist niemals selbstverständlich und bleibt daher unerklärbar. Die historische Forschung leugnet das Große in der Geschichte nicht, sondern erklärt es als die Ausnahme. In dieser Erklärung ist das Große am Gewöhnlichen und Durchschnittlichen gemessen. Es gibt auch keine andere historische Erklärung, solange Erklärung heißt: Rückführung auf das Verständliche, und solange Historie Forschung, d. h. Erklärung bleibt. Weil die Historie als Forschung die Vergangenheit im Sinne eines erklär- und übersehbaren Wirkungszusammenhanges entwirft und vergegenständlicht, deshalb fordert sie als Instrument der Vergegenständlichung die Quellenkritik. In dem Maße als sich die Historie der Publizistik annähert, ändern sich die Maßstäbe dieser Kritik.

Jede Wissenschaft ist als Forschung auf den Entwurf eines umgrenzten Gegenstandsbezirkes gegründet und deshalb notwendig Einzelwissenschaft. Jede Einzelwissenschaft aber muß sich in der Entfaltung des Entwurfs durch ihr Verfahren auf bestimmte Felder der Untersuchung besondern. Diese Besonderung (Spezialistik) ist nun aber keineswegs nur die fatale Begleiterscheinung der zunehmenden Unübersehbarkeit der Forschungsergebnisse. Sie ist nicht ein notwendiges Übel, sondern die Wesensnotwendigkeit der Wissenschaft als Forschung. Die Spezialistik ist nicht die Folge, sondern der Grund des Fortschrittes aller Forschung. Diese fährt bei ihrem Verfahren nicht in beliebige Untersuchungen auseinander, um sich in diesen zu verlaufen; denn die neuzeitliche Wissenschaft wird durch einen dritten Grundvorgang bestimmt: den Betrieb (2).

Man wird darunter zunächst jene Erscheinung verstehen, daß eine Wissenschaft, sei sie eine Natur- oder Geisteswissenschaft, heute erst dann das rechte Ansehen einer Wissenschaft erlangt, wenn sie institutsfähig geworden ist. Allein, die Forschung ist nicht Betrieb, weil ihre Arbeit in Instituten vollzogen wird, sondern die Institute sind notwendig, weil die Wissenschaft in sich als Forschung den Charakter des Betriebes hat. Das Verfahren, durch das die einzelnen Gegenstandsbezirke erobert werden, häuft nicht einfach Ergebnisse an. Es richtet sich vielmehr selbst mit Hilfe seiner Ergebnisse jeweils zu einem neuen Vorgehen ein. In der Maschinenanlage, die für die Physik zur Durchführung der Atomzertrümmerung nötig ist, steckt die ganze bisherige Physik. Entsprechend werden in der historischen Forschung die Quellenbestände für die Erklärung erst verwendbar, wenn die Quellen selbst auf Grund historischer Erklärungen gesichert sind. In diesen Vorgängen wird das Verfahren der Wissenschaft durch ihre Ergebnisse eingekreist. Das Verfahren richtet sich immer mehr auf die durch es selbst eröffneten Möglichkeiten des Vorgehens ein. Dieses Sicheinrichtenmüssen auf die eigenen Ergebnisse als die Wege und Mittel des fortschreitenden Verfahrens ist das Wesen des Betriebcharakters der Forschung. Dieser jedoch ist der innere Grund für die Notwendigkeit ihres Institutcharakters.

Im Betrieb wird der Entwurf des Gegenstandsbezirkes allererst in das Seiende eingebaut. Alle Einrichtungen, die einen planbaren Zusammenschluß der Verfahrensweisen erleichtern, die wechselweise Überprüfung und Mitteilung der Ergebnisse fördern und den Austausch der Arbeitskräfte regeln, sind als Maßnahmen keineswegs nur die äußere Folge davon, daß die Forschungsarbeit sich ausdehnt und verzweigt. Sie wird vielmehr das weither kommende und weithin noch unverstandene Zeichen dafür, daß die neuzeitliche Wissenschaft beginnt, in den entscheidenden Abschnitt ihrer Geschichte einzutreten. Jetzt erst ergreift sie Besitz von ihrem eigenen vollen Wesen.

Was geht in der Ausbreitung und Verfestigung des Institutcharakters der Wissenschaften vor sich? Nichts Geringeres als die Sicherstellung des Vorrangs des Verfahrens vor dem Seienden (Natur und Geschichte), das jeweils in der Forschung gegenständlich wird. Auf dem Grunde ihres Betriebcharakters schaffen sich die Wissenschaften die ihnen gemäße Zusammengehörigkeit und Einheit. Deshalb steht eine institutsmäßig betriebene historische oder archäologische Forschimg der entsprechend eingerichteten physikalischen Forschung wesentlich näher als einer Disziplin ihrer eigenen geisteswissenschaftlichen Fakultät, die noch in der bloßen Gelehrsamkeit stecken geblieben ist. Die entscheidende Entfaltung des neuzeitlichen Betriebscharakters der Wissenschaft prägt daher auch einen anderen Schlag von Menschen. Der Gelehrte verschwindet. Er wird abgelöst durch den Forscher, der in Forschungsunternehmungen steht. Diese und nicht die Pflege einer Gelehrsamkeit geben seiner Arbeit die scharfe Luft. Der Forscher braucht zu Hause keine Bibliothek mehr. Er ist überdies ständig unterwegs. Er verhandelt auf Tagungen und unterrichtet sich auf Kongressen. Er bindet sich an Aufträge von Verlegern. Diese bestimmen jetzt mit, welche Bücher geschrieben werden müssen (3).

Der Forscher drängt von sich aus notwendig in den Umkreis der Wesensgestalt des Technikers im wesentlichen Sinne. So allein bleibt er wirkungsfähig und damit im Sinne seines Zeitalters wirklich. Daneben kann sich noch einige Zeit und an einigen Stellen die immer dünner und leerer werdende Romantik des Gelehrtentums und der Universität halten. Der wirkende Einheitscharakter und somit die Wirklichkeit der Universität liegt jedoch nicht in einer von ihr ausgehenden, weil von ihr genährten und in ihr verwahrten geistigen Macht der ursprünglichen Einigung der Wissenschaften. Wirklich ist die Universität als eine Einrichtung, die noch in einer einzigartigen, weil verwaltungsmäßig geschlossenen Form das Auseinanderstreben der Wissenschaften in die Besonderung und die besondere Einheit der Betriebe möglich und sichtbar macht. Weil die eigentlichen Wesenskräfte der neuzeitlichen Wissen-schaft unmittelbar eindeutig im Betrieb zur Wirkung kom-men, deshalb können auch nur die eigenwiichsigen For-schungsbetriebe von sich aus die ihnen gemäße innere Einheit mit anderen vorzeichnen und einrichten.

Das wirkliche System der Wissenschaft besteht in dem jeweils aus den Planungen sich fügenden Zusammenstehen des Vorgehens und der Haltung hinsichtlich der Vergegenständlichung des Seienden. Der geforderte Vorzug dieses Systems ist niciht irgendeine erdachte und starre inhaltliche Beziehungseinheit der Gegenstandsgebiete, sondern die größtmögliche freie, aber geregelte Beweglichkeit der Umschaltung und Einschaltung der Forschungen in die jeweils leitenden Aufgaben. Je ausschließlicher die Wissenschaft sich auf die vollständige Betreibung und Beherrschung ihres Arbeitsganges vereinzelt, je illusionsfreier diese Betriebe sich in abgesonderte Forschungsanstalten und Forschungsfachschulen verlagern, um so unwiderstehlicher gewinnen die Wissenschaften die Vollendung ihres neuzeitlichen Wesens. Je unbedingter aber die Wissenschaft und die Forscher mit der neuzeitlichen Gestalt ihres Wesens einst machen, um so eindeutiger werden sie sich selbst und um so immittelbarer für den gemeinen Nutzen bereitstellen können, um so vorbehaltloser werden sie sich aber auch in die öffentliche Unauffälligkeit jeder gemeinnützigen Arbeit zurückstellen müssen.

Die neuzeitliche Wissenschaft gründet sich und vereinzelt sich zugleich in den Entwürfen bestimmter Gegenstandsbezirke. Diese Entwürfe entfalten sich im entsprechenden, durch die Strenge gesicherten Verfahren. Das jeweilige Verfahren richtet sich im Betrieb ein. Entwurf und Strenge, Verfahren und Betrieb, wechselweise sich fordernd, machen das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft aus, machen sie zur Forschung.

Wir besinnen uns auf das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft, um darin den metaphysischen Grund zu erkennen. Welche Auffassung des Seienden und welcher Begriff von der Wahrheit begründen, daß die Wissenschaft zur Forschung wird?

Das Erkennen als Forschung zieht das Seiende zur Rechenschaft darüber, wie es und wieweit es dem Vorstellen verfügbar zu machen ist. Die Forschung verfügt über das Seiende, wenn es dieses entweder in seinem künftigen Verlauf vorausberechnen oder als Vergangenes nachrechnen kann. In der Vorausberechnung wird die Natur, in der historischen Nachrechnung wird die Geschichte gleichsam gestellt. Natur und Geschichte werden zum Gegenstand des erklärenden Vorstellens. Dieses rechnet auf die Natur und rechnet mit der Geschichte. Nur was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt als seiend. Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst, wenn das Sein des Seienden in solcher Gegenständlichkeit gesucht wird.

Diese Vergegenständlichung des Seienden vollzieht sich in einem Vorstellen, das darauf zielt, jegliches Seiende so vor sich zu bringen, daß der rechnende Mensch des Seienden sicher und d. h. gewiß sein kann. Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst dann, und nur dann, wenn die Wahrheit zur Gewißheit des Vorstellens sich gewandelt hat. Erstmals wird das Seiende als Gegenständlichkeit des Vorstellens und die Wahrheit als Gewißheit des Vorstellens in der Metaphysik des Descartes bestimmt. Der Titel seines Hauptwerkes lautet: »Meditationes de prima philosophia«, Betrachtungen über die erste Philosophie. Πρώτη φιλοσοφία [Prohte philosophia] ist die von Aristoteles geprägte Bezeichnung für das, was später Metaphysik genannt wird. Die gesamte neuzeitliche Metaphysik, Nietzsche miteingeschlossen, hält sich in der von Descartes angebahnten Auslegung des Seienden und der Wahrheit (4).

Wenn nun die Wissenschaft als Forschung eine wesentliche Erscheinung der Neuzeit ist, dann muß das, was den metaphysischen Grund der Forschung ausmacht, zuvor und weit voraus das Wesen der Neuzeit überhaupt bestimmen. Man kann das Wesen der Neuzeit darin sehen, daß der Mensch sich von den mittelalterlichen Bindungen befreit, indem er sich zu sich selbst befreit. Aber diese richtige Kennzeichnung bleibt doch im Vordergrund. Sie hat jene Irrtümer zur Folge, die es verhindern, den Wesensgrund der Neuzeit zu fassen und von da aus erst auch die Tragweite seines Wesens zu ermessen. Gewiß hat die Neuzeit im Gefolge der Befreiung des Menschen einen Subjektivismus und Individualismus heraufgeführt. Aber ebenso gewiß bleibt, daß kein Zeitalter vor ihr einen vergleichbaren Objektivismus geschaffen hat und daß in keinem Zeitalter vorher das Nichtindividuelle in der Gestalt des Kollektiven zur Geltung kam. Das Wesentliche ist hier das notwendige Wechselspiel zwischen Subjektivismus und Objektivismus. Doch eben dieses wechselseitige Sichbedingen weist auf tiefere Vorgänge zurück. Nicht daß der Mensch sich von den bisherigen Bindungen zu sich selbst befreit, ist das Entscheidende, sondern daß das Wesen des Menschen überhaupt sich wandelt, indem der Mensch zum Subjekt wird. Dieses Wort Subjectum müssen wir freilich als die Ubersetzung des griechischen ύποκείμενον [hypokeimenon] verstehen. Das Wort nennt das Vor-Liegende, das als Grund alles auf sich sammelt. Diese metaphysische Bedeutung des Subjektbegriffes hat zunächst keinen betonten Bezug zum Menschen und vollends nicht zum Ich. Wenn aber der Mensch zu dem ersten und eigentlichen Subjectum wird, dann heißt das: Der Mensch wird zu jenem Seienden, auf das sich alles Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit gründet. Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen. Das ist aber nur möglich, wenn die Auffassung des Seienden im Ganzen sich wandelt. Worin zeigt sich diese Wandlung? Was ist ihr gemäß das Wesen der Neuzeit? Wenn wir uns auf die Neuzeit besinnen, fragen wir nach dem neuzeitlichen Weltbild. Wir kennzeichnen dieses durch eine Abhebung gegen das mittelalterliche und das antike Weltbild. Doch warum fragen wir bei der Auslegung eines geschichtlichen Zeitalters nach dem Weltbild? Hat jedes Zeitalter der Geschichte sein Weltbild und zwar in der Weise, daß es sich jeweils um sein Weltbild bemüht? Oder ist es schon und nur die neuzeitliche Art des Vorstellens, nach dem Weltbild zu fragen?

Was ist das — ein Weltbild? Offenbar ein Bild von der Welt. Aber was heißt hier Welt? Was meint da Bild? Welt stellt hier als Benennung des Seienden im Ganzen. Der Name ist nicht eingeschränkt auf den Kosmos, die Natur. Zur Welt gehört auch die Geschichte. Doch selbst Natur und Geschichte und beide in ihrer sich unterlaufenden und sich überhöhenden Wechseldurchdringung erschöpfen nicht die Welt. In dieser Bezeichnung ist mitgemeint der Weltgrund, gleichviel wie seine Beziehung zur Welt gedacht wird (5).

Bei dem Wort Bild denkt man zunächst an das Abbild von etwas. Demnach wäre das Weltbild gleichsam ein Gemälde vom Seienden im Ganzen. Doch Weltbild besagt mehr. Wir meinen damit die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, so wie es für uns maßgebend und verbindlich ist. Bild meint hier nicht einen Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung herausklingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ins Bild setzen heißt: das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben. Aber noch fehlt eine entscheidende Bestimmung im Wesen des Bildes. »Wir sind über etwas im Bilde« meint nicht nur, daß das Seiende uns überhaupt vorgestellt ist, sondern daß es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht. »Im Bilde sein«, darin schwingt mit: das Bescheid-Wissen, das Gerüstetsein und sich darauf Einrichten. Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will (6). Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist. Wo es zum Weltbild kommt, vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.

Überall dort aber, wo das Seiende nicht in diesem Sinne ausgelegt wird, kann auch die Welt nicht ins Bild rücken, kann es kein Weltbild geben. Daß das Seiende in der Vorgestelltheit seiend wird, macht das Zeitalter, in dem es dahin kommt, zu einem neuen gegenüber dem vorigen. Die Redewendungen »Weltbild der Neuzeit« und »neuzeitliches Weltbild« sagen zweimal dasselbe und unterstellen etwas, was es nie zuvor geben konnte, nämlich ein mittelalterliches und ein antikes Weltbild. Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, daß überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus. Für das Mittelalter dagegen ist das Seiende das ens creatum, das vom persönlichen Schöpfergott als der obersten Ursache Geschaffene. Seiendes sein besagt hier: in eine je bestimmte Stufe der Ordnung des Geschaffenen gehören und als so Verursachtes der Schöpfungsursache entsprechen (analogia entis) (7). Niemals aber besteht das Sein des Seienden hier darin, daß es, als das Gegenständliche vor den Menschen gebracht, in dessen Bescheid- und Verfügungsbereich gestellt und so allein seiend ist.

Noch ferner liegt dem Griechentum die neuzeitliche Auslegung des Seienden. Einer der ältesten Aussprüche des griechischen Denkens über das Sein des Seienden lautet: Τό γάρ αύτό νοεΐν έστίν τε και εϊναι. Dieser Satz des Parmenides will sagen: Zum Sein gehört, weil von ihm gefordert und bestimmt, das Vernehmen des Seienden. Das Seiende ist das Aufgehende und Sichöffnende, was als das Anwesende über den Menschen als den Anwesenden kommt, d. h. über den, der sich selber dem Anwesenden öffnet, indem er es vernimmt. Das Seiende wird nicht seiend dadurch, daß erst der Mensch es anschaut im Sinne gar des Vorstellens von der Art der subjektiven Perception. Vielmehr ist der Mensch der vom Seienden Angeschaute, von dem Sichöffnenden auf das Anwesen bei ihm Versammelte. Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen umgetrieben und von seinem Zwiespalt gezeichnet sein: das ist das Wesen des Menschen in der großen griechischen Zeit. Deshalb muß dieser Mensch, um sein Wesen zu erfüllen, das Sichöffnende in seiner Offenheit sammeln (λέγειν [legein]) und retten (σώζειν [sohdsein]), auffangen und bewahren und aller sich aufspaltenden Wirrnis ausgesetzt bleiben (άληθεύειν [alepheyein]). Der griechische Mensch ist als der Vernehmer des Seienden, weshalb im Griechentum die Welt nicht zum Bild werden kann. Wohl dagegen ist dies, daß sich für Piaton die Seiendheit des Seienden als εϊδος ([eidos] Aussehen, Anblick) bestimmt, die weit vorausgeschickte, lang im Verborgenen mittelbar waltende Voraussetzung dafür, daß die Welt zum Bild werden muß (8).

Ganz anderes meint im Unterschied zum griechischen Vernehmen das neuzeitliche Vorstellen, dessen Bedeutung das Wort repraesentatio am ehesten zum Ausdruck bringt. Vorstellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden zu, beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen. Wo solches geschieht, setzt der Mensch über das Seiende sich ins Bild. Indem aber der Mensch dergestalt sich ins Bild setzt, setzt er sich selbst in die Szene, d. h. in den offenen Umkreis des allgemein und öffentlich Vorgestellten. Damit setzt sich der Mensch selbst als die Szene, in der das Seiende fortan sich vorstellen, präsentieren, d. h. Bild sein muß. Der Mensch wird der Repräsentant des Seienden im Sinne des Gegenständigen.

Aber das Neue dieses Vorgangs liegt keinesfalls darin, daß jetzt die Stellung des Menschen inmitten des Seienden ledig-lich eine andere ist gegenüber dem mittelalterlichen und antiken Menschen. Entscheidend ist, daß der Mensch diese Stellung eigens als die von ihm ausgemachte selbst bezieht, sie willentlich als die von ihm bezogene innehält und als den Boden einer möglichen Entfaltung der Menschheit sichert. Jetzt erst gibt es überhaupt so etwas wie eine Stellung des Menschen. Der Mensch stellt die Weise, wie er sich zum Seienden als dem Gegenständlichen zu stellen hat, auf sich selbst. Jene Art des Menschseins beginnt, die den Bereich der menschlichen Vermögen als den Maß- und Vollzugsraum für die Bewältigung des Seienden im Ganzen besetzt. Das Zeitalter, das sich, aus diesem Geschehnis bestimmt, ist nicht nur für die rückschauende Betrachtung ein neues gegenüber den vorausgegangenen, sondern es setzt sich, selbst und eigens als das neue. Neu zu sein gehört zur Welt, die zum Bild geworden.

Wenn somit der Bildcharakter der Welt als die Vorgestelltheit des Seienden verdeutlicht wird, dann müssen wir, um das neuzeitliche Wesen der Vorgestelltheit voll zu fassen, aus dem abgenutzten Wort und Begriff »vorstellen« die ursprüngliche Nennkraft herausspüren: das vor sich hin und zu sich her Stellen. Dadurch kommt das Seiende als Gegenstand zum Stehen und empfängt so erst das Siegel des Seins. Daß die Welt zum Bild wird, ist ein und derselbe Vorgang mit dem, daß der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird (9).

Nur weil und insofern der Mensch überhaupt und wesentlich zum Subjekt geworden ist, muß es in der Folge für ihn zu der ausdrücklichen Frage kommen, ob der Mensch als das auf seine Beliebigkeit beschränkte und in seine Willkür losgelassene Ich oder als das Wir der Gesellschaft, ob der Mensch als Einzelner oder als Gemeinschaft, ob der Mensch als Persönlichkeit in der Gemeinschaft oder als bloßes Gruppenglied in der Körperschaft, ob er als Staat und Nation und als Volk oder als die allgemeine Menschheit des neuzeitlichen Menschen das Subjekt sein will und muß, das er als neuzeitliches Wesen schon ist. Nur wo der Mensch wesenhaft schon Subjekt ist, besteht die Möglichkeit des Ausgleitens in das Unwesen des Subjektivismus im Sinne des Individualismus. Aber auch nur da, wo der Mensch Subjekt bleibt, hat der ausdrückliche Kampf gegen den Individualismus und für die Gemeinschaft als das Zielfeld alles Leistens und Nutzens einen Sinn.

Die für das Wesen der Neuzeit entscheidende Verschränkung der beiden Vorgänge, daß die Welt zum Bild und der Mensch zum Subjectum wird, wirft zugleich ein Licht auf den im ersten Anschein fast widersinnigen Grundvorgang der neuzeitlichen Geschichte. Je umfassender nämlich und durchgreifender die Welt als eroberte zur Verfügung steht, je objektiver das Objekt erscheint, um so subjektiver, d. h. vordringlicher erhebt sich das Subjectum, um so unaufhaltsamer wandelt sich die Welt-Betrachtung und Welt-Lehre zu einer Lehre vom Menschen, zur Anthropologie. Kein Wunder ist, daß erst dort, wo die Welt zum Bild wird, der Humanismus heraufkommt. Aber sowenig in der großen Zeit des Griechentums dergleichen wie ein Weltbild möglich war, sowenig konnte sich damals ein Humanismus zur Geltung bringen. Der Humanismus im engeren historischen Sinne ist daher nichts anderes als eine moralisch-ästhetische Anthropologie. Dieser Name meint hier nicht irgendeine naturwissenschaftliche Erforschung des Menschen. Er meint auch nicht die innerhalb der christlichen Theologie festgelegte Lehre vom geschaffenen, gefallenen und erlösten Menschen. Er bezeichnet jene philosophische Deutung des Menschen, die vom Menschen aus und auf den Menschen zu das Seiende im Ganzen erklärt und abschätzt (10).

Die immer ausschließlichere Verwurzelung der Weltauslegung in der Anthropologie, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt, findet ihren Ausdruck darin, daß sich die Grundhaltung des Menschen zum Seienden im Ganzen als Weltanschauung bestimmt. Seit jener Zeit gelangt dieses Wort in den Sprachgebrauch. Sobald die Welt zum Bilde wird, begreift sich die Stellung des Menschen als Weltanschauung. Zwar legt das Wort Weltanschauung das Mißverständnis nahe, als handle es sich da nur um ein untätiges Betrachten der Welt. Man hat deshalb schon im 19. Jahrhundert mit Recht betont, Weltanschauung bedeute auch und sogar vor allem Lebensanschauung. Daß gleichwohl das Wort Weltanschauung als Name für die Stellung des Menschen inmitten des Seienden sich behauptet, gibt den Beleg dafür, wie entschieden die Welt zum Bild geworden ist, sobald der Mensch sein Leben als das Subjectum in den Vorrang der Bezugsmitte gebracht hat. Dies bedeutet: Das Seiende gilt erst als seiend, sofern es und soweit es in dieses Leben ein- und zurückbezogen, d. h. er-lebt und Er-lebnis wird. So ungemäß dem Griechentum jeder Humanismus blei-ben mußte, so unmöglich war eine mittelalterliche, so wider-sinnig ist eine katholische Weltanschauung. So notwendig und rechtmäßig dem neuzeitlichen Menschen alles zum Erlebnis werden muß, je uneingeschränkter er in die Gestaltung seines Wesens ausgreift, so gewiß konnten die Griechen bei der Festfeier in Olympia niemals Erlebnisse haben.

Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens. In diesem kämpft der Mensch um die Stellung, in der er dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht. Weil diese Stel-lung sich als Weltanschauung sichert, gliedert und ausspricht, wird das neuzeitliche Verhältnis zum Seienden in seiner entscheidenden Entfaltung zur Auseinandersetzung von Weltanschauungen und zwar nicht beliebiger, sondern allein jener, die bereits äußerste Grundstellungen des Menschen mit der letzten Entschiedenheit bezogen haben. Für diesen Kampf der Weltanschauungen und gemäß dem Sinne dieses Kampfes setzt der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtimg aller Dinge ins Spiel. Die Wissenschaft als Forschung ist eine unentbehrliche Form dieses Sich-einrichtens in der Welt, eine der Bahnen, auf denen die Neu-zeit mit einer den Beteiligten unbekannten Geschwindigkeit ihrer Wesenserfüllung zurast. Mit diesem Kampf der Weltanschauungen tritt die Neuzeit erst in den entscheidenden und vermutlich dauerfähigsten Abschnitt ihrer Geschichte (11).

Ein Zeichen für diesen Vorgang ist, daß überall und in den verschiedensten Gestalten und Verkleidungen das Riesenhafte zur Erscheinung kommt. Dabei meldet sich das Riesige zugleich in der Richtung des immer Kleineren. Denken wir an die Zahlen der Atomphysik. Das Riesige drängt sich in einer Form vor, die es scheinbar gerade verschwinden läßt: in der Vernichtung der großen Entfernungen durch das Flugzeug, im beliebigen, durch einen Handgriff herzustellenden Vorstellen fremder und abgelegener Welten in ihrer Alltäglichkeit durch den Rundfunk. Aber man denkt zu oberflächlich, wenn man meint, das Riesige sei lediglich die endlos zerdehnte Leere des nur Quantitativen. Man denkt zu kurz, wenn man findet, das Riesige in der Gestalt des fortgesetzt Nochniedagewesenen entspringe nur der blinden Sucht der Übertreibung und des Übertreffens. Man denkt überhaupt nicht, wenn man dieses Erscheinen des Riesenhaften mit dem Schlagwort Amerikanismus gedeutet zu haben glaubt (12).

Das Riesige ist vielmehr jenes, wodurch das Quantitative zu einer eigenen Qualität und damit zu einer ausgezeichneten Art des Großen wird. Jedes geschichtliche Zeitalter ist nicht nur verschieden groß gegenüber anderen; es hat auch jeweils seinen eigenen Begriff von Größe. Sobald aber das Riesenhafte der Planung und Berechnung und Einrichtung und Sicherung aus dem Quantitativen in eine eigene Qualität umspringt, wird das Riesige und das scheinbar durchaus und jederzeit zu Berechnende gerade dadurch zum Unberechenbaren. Dies bleibt der unsichtbare Schatten, der um alle Dinge überall geworfen wird, wenn der Mensch zum Subjectum geworden ist und die Welt zum Bild (13).

Durch diesen Schatten legt sich die neuzeitliche Welt selbst in einen der Vorstellung entzogenen Raum hinaus und verleiht so jenem Unberechenbaren die ihm eigene Bestimmtheit und das geschichtlich Einzigartige. Dieser Schatten aber deutet auf ein anderes, das zu wissen uns Heutigen verweigert ist (14). Doch der Mensch wird dieses Verweigerte nicht einmal erfahren und bedenken können, solange er sich in der bloßen Verneinung des Zeitalters herumtreibt. Die aus Demut und Überheblichkeit gemischte Flucht in die Überlieferung vermag für sich genommen nichts, es sei denn das Augenschließen und die Verblendung gegenüber dem geschichtlichen Augenblick.

Wissen, d. h. in seine Wahrheit verwahren, wird der Mensch jenes Unberechenbare nur im schöpferischen Fragen und Gestalten aus der Kraft echter Besinnung. Sie versetzt den künftigen Menschen in jenes Zwischen, darin er dem Sein zugehört und doch im Seienden ein Fremdling bleibt (15). Hölderlin wußte davon. Sein Gedicht, das überschrieben ist »An die Deutschen«, schließt:

»Wohl ist enge begränzt unsere Lebenszeit,

Unserer Jahre Zahl sehen und zählen wir,

Doch die Jahre der Völker,

Sah ein sterbliches Auge sie?

Wenn die Seele dir auch, über die eigne Zeit

Sich die sehnende schwingt, trauernd verweilest du

Dann am kalten Gestade

Bei den Deinen und kennst sie nie.« “

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So schreibt Heidegger über das Weltbild. In einem daran anschliessenden Artikel wollen wir schauen, was dieser Text des Heidegger für die WA bedeutet.

Anbei ein PDF des ganzen Buches “Holzwege”, in dem “Die Zeit des Weltbildes” veröffentlicht wurde, und ein vom ‘steinerschüler’ selber abgeschriebener Text der Schrift “Die Zeit des Weltbildes”.

Werden hier Urheberrechte verletzt, so wäre dies äusserst bedauerlich, und die Dokumente werden auf Anfrage schweren Herzens entfernt, und der Artikel so angepasst, dass nicht mehr der gesamte Text aufgeführt ist. Allerdings sollten solche Gedanken den Weg zur Allgemeinheit finden können, und eine solche Forderung oder Bitte zum Entfernen der Schrift einer längst verstorbenen Persönlichkeit, scheint allein ein Verlust für den Gedanken des ursprünglichen Autors zu sein. Der Betreiber dieser (komplett werbefreien) Webseite generiert keinerlei Umsatz mit solchen Dokumenten, im Gegenteil wird am Beginn des Artikels ersichtlich auf die Verkaufsseite (Amazon) zum Original verlinkt.

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