Zeit ist eines jener Themen, das sich mir komplett entzieht. Es ist mir unverständlich, wie selbstverständlich darüber nachgedacht wird, und ich verstehe die Schlüsse nicht, die daraus gezogen werden. Die Frage ist hier vielleicht weniger, ob es Zeit gibt, sondern ob sie wahrnehmbar ist, oder ob sie sich vielleicht aus Dingen zusammensetzt, die fälschlicherweise zu einem Begriff wie ‘Zeit‘ verleiten.
Der ändernde Zustand wird erlebt, nicht Zeit
Der Grund, dass sich mir diese Frage stellt ist der, dass ich Zeit noch nie an sich erlebt habe, ohne lediglich im Blick zurück auf Zeit als ein notwendig Vergangenes zu schliessen, und dass sie sich mir noch nie als Dimension gezeigt hat. Dimensionen haben für mich etwas Vorstellbares zu haben, und ich kann mir Zeit an sich nicht vorstellen. Der Lauf eines Sekundenzeigers ist für mich nicht das Erlebnis von Zeit, sondern der sich ändernde Zustand von etwas, das schlichtweg ist (dem Zeiger). Vielleicht bin ich in meinem Vorstellungs- oder Wahrnehmungsvermögen eingeschränkt, wie z.B. jene Menschen, die sich keine räumliche Tiefe vorstellen können, und die die Welt als vertikale Fläche, wie ein Bild, sehen.
Jedoch habe ich den Verdacht, dass es den meisten Menschen ähnlich ergeht, und dass sie Zeit auf etwas schliessen, das eigentlich überhaupt nicht so erlebt wurde oder erlebt wird, wie es der Begriff eigentlich verlangen würde. Um hier nicht falsch verstanden zu werden, beschreibe ich ganz kurz mein Erlebnis von Zeit. Eine bildliche Erinnerung z.B. ist mir ein schnelles Durchspulen einer Abfolge von Erscheinungen und Eindrücken. Einzelne, kleine Abschnitte geschehen in der Vorstellung vom Ferneren zum Näheren, ohne dass die Abschnitte selber eine solche Reihenfolge einhalten müssen. Die Erinnerung einer Information hingegen ist wie ein Begriff da, oder sie ist sich am Zusammensetzen, während erinnert wird – sie kommt scheinbar aus dem Nichts. Es ist jedoch (jedenfalls mir) nicht möglich, ein Ereignis zeitlich als eine Einheit vergegenwärtigt vor sich zu sehen, mit Anfang und Ende und allem dazwischen, gleichzeitig. Das heisst, anders als eine Abfolge von Momenten ist eine Handlung oder ein Ereignis in der Vorstellung nicht zu erinnern. Die Reihenfolge der Abfolge ist relevant, man kann z.B. auch nicht einfach so rückwärts zurückspulen wie das bei einer Kassette möglich ist, ohne sich einfach etwas zurecht zu fantasieren. Man kann in der Vorstellung nur schrittweise zurück springen.
Auch das Erleben der Gegenwart ist mir nicht wirklich ein Erlebnis von Zeit. Das Erlebnis der Gegenwart scheint mir eher ein Durchleben von Zuständen zu sein, als das Erlebnis einer alles Geschehen umspannenden Dimension, wie Zeit nach der Meinung vieler eine sein sollte.
Zeit ist dem Menschen eine Abstraktion
Im Prinzip ist Zeit die Abstraktion von etwas, das nicht direkt wahrgenommen werden kann. Es fasst einzelne wahrnehmbare Einheiten zu etwas zusammen, das, als das neue Etwas, die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen eigentlich übersteigt. Der Mensch kontrolliert Zeit nicht, kann sich nicht frei in ihr bewegen, ist ihr eigentlich komplett ausgeliefert, und er kann sich ihr nur über Instrumente, oder natürliche, in der Aussenwelt vorkommende, regelmässige Rhythmen nähern, die ihm etwas in vereinfachter Weise erzählen, das er selber in dessen Gänze nicht begreift. Ohne unseren eigenen Rhythmus mit einer Uhr, oder einem sonstigen Instrument mit Zeitangaben, abzugleichen, ist es uns z.B. auch nicht möglich, jeden Morgen um die genau gleiche Minute, z.B. genau eine Minute vor dem Klingeln des Weckers, aufzuwachen, oder um genau zwölf Uhr ein Hungergefühl zu verspüren, und dergleichen Phänomene.
Zeit für sich ist also eine Abstraktion. Unsere Gedanken über das Thema Zeit gehen jedoch davon aus, dass Zeit wahrnehmbar ist. Wo Gedanken vom Falschen ausgehen, geschehen Fehler in den Untersuchungen, und wo in Untersuchungen Fehler gemacht werden, vergrössert sich das Risiko von Irrtum rapide. Man kann durch Zufall trotz falscher Annahmen noch immer Wahrheiten finden, jedoch mindert sich die Wahrscheinlichkeit für Wahrheiten mit der Zunahme an falschen Annahmen.
Gehen wir also von jenem aus, von dem wir wissen, wie dem Gewordenen aus den Artikeln der ersten Frage. Wir wissen, dass es in der Welt das Zyklische gibt (das Notwendige), wir wissen das es die Entwicklung gibt (das Bestimmte), wir wissen dass alles mit allem anderen im Austausch ist (das Wechselwirksame), und wir wissen, dass Seiendes, manches mehr, anderes weniger, aus sich heraus wirkt (das Eigentliche).
Zwar scheint daraus Zeit zu resultieren, jedoch ist diese, anders als die Beispiele, nicht wahrnehmbar. Wir erleben den Zyklus, auch wenn er der abstrakten Zeit in seiner Abstraktion vielleicht ähnlich sieht. Von Zeit ist das einzig Erlebbare die Gegenwart, der Zyklus ist zwischen der Überkategorie Zeit und der Unterkategorie Gegenwart, denn man ist in der Gegenwart in einer Anzahl Zyklen drinnen. Vom Kleinsten, wie dem Ein- und Ausatmen, bis zu grossen, weltgeschichtlichen Epochen, finden sich so einige, wobei jeder Zyklus wieder ein Vielfaches grösser ist als der nächst Kleinste. Der Zyklus als Begriff ist mit all seinen vergangenen und zukünftigen Versionen also genausowenig wie die Zeit überschaubar, aber er ist unserem Vorstellungsvermögen etwas näher, weil er in vielen Grössen mit unserem Erleben eng verbunden ist, während der Begriff der Zeit auch sehr alleine, ohne Bindungen dastehen kann. Man ist immerzu am Atmen, am Wachen oder Schlafen, und wenn die sich wiederholende Wiedergeburt gelten soll, am Leben im Materiellen, und nach dem Versterben im Materiellen, am Leben im Geistigen, usw. Man lebt das Zyklische jeden Moment, und erfährt es im Leben (inkarniert sein) ununterbrochen am eigenen Leibe.
Subjektivität von Zeit
An dieser Stelle muss ich mich fragen, ob die Idee, den Begriff Zeit zu hinterfragen, nicht lediglich der Wunsch nach konträrem Denken ist (ein ungewöhnliches Denken, das gegen das Gewöhnliche ist, nur um ungewöhnlich sein zu können, aber nicht etwa, weil mit dem Gewöhnlichen tatsächlich etwas falsch wäre). Es scheint mir dies nicht der Fall zu sein, da Zeit tatsächlich keine feste Bindung an das Sein hat, sondern aus grundlegenderen Dingen zusammengefügt zu sein scheint. Diese Annahme ist wohl gültig, weil Zeit subjektiv unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Bei der Langeweile vergehen einem die Momente verlangsamt, bei einer fesselnden Geschichte, oder Ereignissen die sich überschlagen, hingegen beschleunigt. Grundlegendere Gewordenheit (Gewordenes ist alles was irgendwie ist, sei dies Materie, Geist, Idee, selbst ein falscher Gedanke) ist in ihrer Anwesenheit jedoch unumstösslich und unausweichlich. Zeit ist dafür etwas zu anpasserisch, um tiefste Grundlage zu sein.
Zeit als Produkt von Verschiedenem
Die Notwendigkeit des Zyklischen führt uns zur Entwicklung. In jedem vollendeten Zyklus findet eine kleine Vollendung statt, und unser Zyklus beginnt die nächste Runde. Wobei nun vieles dem meisten Vorherigen ähnlich bleibt, ist in der neuen Runde doch mindestens etwas anders, denn mit der kleinen Vollendung fand eine gewisse Entwicklung statt. Irgendwann findet eine Reihe ähnlicher Zyklen ihr Ende, aber das ist nicht das Ende von allem. Denn mit dem Zuendegehen einiger kleinerer Zyklen, hat lediglich ein wiederum grösserer Zyklus eine volle Runde gedreht und beendet, und geht nun in die nächste. Der grössere Zyklus umfasst hierbei eine Serie kleinerer Zyklen. Damit wurde eine zu unserem kleineren Zyklus etwas grössere Entwicklung abgeschlossen, und eine andere grössere Entwicklung begonnen.
Das Gewordene bedingt den Austausch mit anderem Gewordenem, um sich entwickeln zu können. Ist das Gewordene isoliert, ohne Wahrnehmung und Interaktion, und kann nichts aus sich selbst schaffen, mit dem es in einen Austausch kommen könnte, so zerfrisst es sich selbst. Der Austausch macht einen Abschnitt in einem Zyklus aus. Je mehr Austausch, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen.
Gleiches gilt nun für das Wirken. Ist ein Gewordenes, z.B. ein Sein, nicht irgendwie von allem anderen abgeschnitten, so wird es auf seine Umgebung eine Wirkung ausüben. Je mehr es wirkt, desto schneller scheint ihm Zeit zu vergehen.
Es muss nun nicht heissen, dass sich Zeit durch diese Dinge, wie Zyklus, Entwicklung, Austausch und Wirken zusammensetzt, es scheint aber Sinn zu machen, Zeit als etwas zu sehen, das sich für das Denken in verschiedene Dinge aufteilen muss, Dinge, die man einzeln nachvollziehen kann, die aber zusammengenommen einem nur wie etwas scheinen, das eine Einheit bildet. Vielleicht entstand der Begriff der Zeit aus einem Erklärungsbedürfnis heraus, um etwas wie die Alterung des Menschen, oder Planung für die Zukunft, verstehen und umschreiben zu können, wodurch sich aus dem Wort heraus der Begriff bildete, und nicht umgekehrt.
Wir haben Eigenschaften des Gewordenen, die erfüllt sein müssen, damit es Gewordenes sein kann. Das Gewordene, das eine der Eigenschaften nicht aufweisen konnte, kennen wir nicht, es hat sich aufgefressen und ist verschwunden. Es ‘verlor’ seine Zeit, denn die Bedingungen des Gewordenen sind eine sehr ursprüngliche Selektion. Das Gewordene aber, das die Bedingungen erfüllt, das hat notwendigerweise Zeit, respektive unser fragmentiertes Äquivalent davon. Nicht weil Zeit aus sich selbst heraus da ist, sondern weil sich durch die genannten Bedingungen etwas geschaffen hat, das man am einfachsten, mit dem Begriff Zeit beschreibt.