Der Gnostizismus ist eine der sieben Visibilitätsstufen (‘Weltanschauungsstimmungen‘ nach Rudolf Steiner) des WA-Prinzips, der dort in Erscheinung tritt, wo der Mensch in seiner Erkenntnis Gewissheit (oder kritischer: ein Gefühl von Gewissheit) benötigt oder wünscht.
Der Gnostizismus erlebt in der Gegenwart eine Art Renaissance, aber es ist leider nicht eine von guter Natur. Der Gnostizismus, den man in der Gegenwart mehr und mehr finden kann, zeigt sich durch etwas, das man, z.B. durch Dr. Michael Blume vom Begriff Verschwörungstheorie abgegrenzt, ‘Verschwörungsmythos‘ nennt. Eine Ansammlung von Verschwörungsmythen wird zur Verschwörungsideologie. Es ist jedoch nicht die Visibilitätsstufe Mystizismus in solchen Mythen, wie man denken könnte, sondern eben die des Gnostizismus.
Das Problem
Der Grund, dass der Gnostizismus in der Gegenwart erstarkt, hat vor allem wohl mit den recht schnell vonstatten gehenden gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, die durch Technologien nicht nur möglich, sondern vermutlich auch unumkehrbar sind. Es gibt viele Aspekte des Lebens, die sich mit einer eindrücklichen Anzahl Technologien tief in die alltäglichen Rhythmen des Menschen einfügen, und über die man noch nicht genug versteht, um in symbolhafter Sprache einen gesunden Umgang damit zu lehren.
Nicht nur für Neues fehlt die symbolhafte, bildliche Weisheit, die den Menschen ein Wegweiser sein kann, wie das z.B. für die weniger individualistischen Menschengruppen des Altertums in verschiedenen, damals noch zutiefst wahren Bildern, gelehrt wurde, auch für Älteres ging dem Gegenwartsmenschen eine solche Sprache verloren.
Die Abkehr vom Kollektivismus mit seinen Abgrenzungen von Gruppe zu Gruppe hin zu etwas, das individualistischer ist, ist nach Rudolf Steiner eine natürliche (und notwendige) Entwicklung der Menschheit. So findet man sich in der Gegenwart nicht nur von den alten, eigentlich viel Erneuerung bedürfenden, Bildern abgeschnitten, die durch einen sehr gefühlsarmen, einseitig denkerischen Rationalismus ersetzt wurden. Der Gegenwartsmensch findet sich auch in einer intellektualistischen Umgebung, die für die neuen Phänomene nichts Symbolhaftes liefert, nach dem man sich, ohne denkerisch sein zu müssen, richten könnte. Der Rationalismus, der die vielen Forschungen und Veränderungen überhaupt erst mit dem nötigen Treibstoff versorgt, hat kein sonderliches Interesse an Imaginationen, wie sie in der Vergangenheit z.B. aus dem Pneumatismus (Überkategorie von Monotheismus, Pantheismus usw) kamen. Er will die Dinge ohne jeden Zusatz erklärt haben, er will sich den Dingen nicht nähern und sich damit verbinden, sondern sie begreifen.
So sehr es dem Menschen heute mangelt an bedeutenden nicht-intellektualistischen Ideen, so sehr schwimmt er in der gewaltigen Komplexität, die sich vor ihm findet. Und diese Komplexität nimmt durch sich gegenseitig befeuernde Technollgien nur noch mehr an Geschwindigkeit zu. Dazu einige Beispiele: Die Firma Apple hat faszinierende Projekte in ‘Realitätserweiterung’ (Augmented Reality) in der Produktionsphase, wo sie mit ihrer bestehenden Infrastruktur jede Konkurrenz weit zurück lässt. Die Firma Facebook macht bedeutende Fortschritte mit Projekten in virtueller Realität. Die Firma Alphabet, respektive Google, hat grandiose Projekte in KI, wo sie deswegen einen gewaltigen Vorsprung zu aller Konkurrenz hat, weil sie alle erdenklichen Daten und die Interpretationen davon hat. Amazon investiert gewaltige Summen in künstliche Intelligenz für Robotik, sowohl für die Warenhäuser und den Vertrieb, wie auch für die kommerzielle Verwendung für ihre Kunden, usw. Dezentralisiertes Finanzwesen wird Märkte in wenigen Jahren grundlegend (weiter) verändern, und noch effizienter machen, und es wird sich bald ein Unternehmen finden, das bereits in die entsprechende Richtung erfolgreich ist, ungeheure Geldreserven zu versenken hat, und damit möglicherweise wie die eben genannten ebenso ein kurz und mittelfristig anhaltendes Monopol errichten kann, z.B. eine Grossbank wie UBS, GS, CS, BoA usw. Dieser die grössten Firmen der Welt umfassende Techsektor hat durch einzelne Firmen Monopole auf Teile der am schnellsten wachsenden Industrien, und fast endlos viele Ressourcen, die diese darin investieren können. Die Geschwindigkeit technologischer Fortschritte ist exponentiell beschleunigend in ihrer Natur, und das sehen wir in der Gegenwart eindrücklich.
Vielleicht fühlen sich die Menschen nicht nur unverständig zu dem, was ihnen durch die bereits erreichten Technologien gebracht wurde, vielleicht haben sie auch ein intuitives Gefühl dafür, dass noch viel mehr derselben, tief in das Leben eingreifenden, Technologien auf dem Weg sind, die sie noch weniger verstehen können werden. KI-Programme wie ChatGPT werden kaum einmal von dessen Entwicklern verstanden, da KI in ihren Entscheidungensabläufen stets eine Art Blackbox sind.
Die Unsicherheiten, die aus diesen Umständen erwachsen, führen, wie man sich wohl leicht denken kann, zu einem Wunsch nach mehr Gewissheit. Es reicht niemandem, zu allem Möglichen sagen müssen: “Das verstehe ich nicht, das verstehe ich auch nicht, und hier verstehe ich genauso wenig”. Der am Leben interessierte Mensch möchte die Dinge vor sich intuitiv verstehen können, und wenn wir wissen, dass uns das Verstehen unmöglich ist, und alle anderen behaupten, alles zu verstehen, so werden wir uns entfremden, und die Mitwelt ist bald nur noch Umwelt, und dadurch zunehmend unerklärbar.
Die falsche Lösung
Wenn in dieser betrübenden Atmosphäre nun aber auf einmal Erklärungen auftauchen, die nicht nur einfach zu verstehen sind, sondern uns, in unserer langsam wachsenden Verzweiflung, als das Opfer von bestimmten übermächtigen Kräften darstellen, so können uns die Erklärungen im Glauben bestärken, dass wir eigentlich überhaupt nichts dafür können, dass uns die Dinge so unnahbar scheinen, sondern dass jemand etwas geplant und durchgesetzt haben muss, das uns vielleicht entfremden soll. So wird uns Letzteres weitaus lieber sein, als selber Verantwortung am Unwissen zu tragen.
Ich möchte hier keineswegs behaupten, dass die Menschen tatsächlich selber Schuld daran seien, mit der gewaltigen Komplexität neuer Technologien nicht mehr mitzukommen. Das Problem sind nicht etwa befriffsstutzige Menschen, sondern die Tatsache, dass sich die Technologien so schnell entwickeln, dass die meisten nicht die Zeit haben, sich darauf einzurichten. Die Menschen sind nicht zu langsam, sondern die Entwicklungen geschehen zu schnell. Wir lernen in der Schule vielleicht das Zehnfingersystem auf der Komputatorentastatur (ich verdeutsche ‘Computer’ versuchsweise zu Komputator, weil man m.E. englische Begriffe dann verwenden kann, wenn man Englisch spricht), aber dies erlaubt uns nur, mit einem Teil der Technologie zu interagieren – es gibt uns noch noch keinen Einblick in die tiefere Architektur derselben. Möchte man mehr wissen, so muss man Programmiersprachen erlernen.
Die Erklärungen haben scheinbar die Form von Mythen. Es sind jedoch nicht Mythen, wie sie im Altertum von den Erfahrendsten und Weisesten vorsichtig durchdacht, mit viel Fingerspitzengefühl in Sprache geformt und dann geduldig immer und immer wieder erzählt wurden, sondern organisch gewachsene, von vielen Menschen zusammen getragene. An den modernen Mythen, wie sie z.B. durch den Antisemitismus ans Licht treten, ist nichts Ehrfürchtiges/ Vorbildhaftes, nichts Ordnendes, nichts, woraus irgendwas gelernt werden könnte, vor allem nichts Bedeutendes. Es sind Gemische aus selektiven Fakten, grandiosen Übertreibungen, unverhohlenen Lügen, subtilen Halbwahrheiten, in anderen Worten ein gewaltiges Mischmasch aus allem möglichen Vorstellbarem, Naheliegendem usw. Sie entstehen durch die modernen Kommunikationsmöglichkeiten, wo sich alle möglichen Menschen finden, die untereinander keine Hierarchie haben, die darin sagen können, was sie wollen, die niemals alles Behauptete überprüfen können, weil bei der Überprüfung gleichsam Falschheiten auftreten können. Es gibt sehr grosse, auch offensichtliche Probleme mit Kommunikationstechnologien, und es gibt Probleme, die versteckter, jedoch nicht minder relevant sind. Und nun gibt es Technologien mit denen wir bereits interagieren, deren mögliche Probleme und Implikationen wir uns aber überhaupt noch nicht vorstellen können.
Wir haben also verschiedene Dinge, die hier aufeinander treffen: Technologien, die sich für die Menschen, ja die Menschheit, zu schnell entwickeln und sich darin beschleunigen, das Bedürfnis nach mehr Gewissheit, dann die Inexistenz von echten Mythen und schliesslich das Bedürfnis nach Mythen. Und in der Mitte dieser Phänomene erscheint der Gnostizismus als der scheinbare Ausweg, und er ist die Visibilitätsstufe, die die Menschen in diesem chaotischen Wirbel anzieht. Er gibt den Menschen die Möglichkeit von Gewissheit, aber es ist eine Gewissheit in falsche Vorstellungen, und die Konsequenzen können, und werden vermutlich, eine sehr unangenehme Tragweite haben.
Die richtige Lösung
Ich weiss nicht, wie man die Technologien und Unsicherheiten in mystizistische Bilder formt, die auch erlauben, sich tatsächlich mystizistisch, und nicht gnostizistisch damit zu beschäftigen. Aber ich könnte mir vorstellen zu wissen, was der Weg dahin sein kann: persönlicher, direkter Dialog, mit nicht nur Toleranz, sondern auch echte Offenheit zu der Weltanschauung vor einem. Nicht gefilmt, nicht sonstwie aufgenommen, nicht über Youtube, nicht als Podcast, sondern physisch beisammen, den Menschen, und die Umwelt um diesen, sichtbar, erlebbar vor einem. In solchen Dialogen kann man sich den grossen Lehrer Platon, oder dessen Lehrer Sokrates, als das Vorbild nehmen, denn es gibt in meinen Augen keine leuchtenderen Beispiele des Dialogisierens (nun ein Wort, sofern es keines war). Ich weiss nicht, ob das helfen würde, imaginativ und inspirativ auf die, für eine konstruktive Beschäftigung passenden, Bilder zu kommen, und intuitiv diese in etwas Sprachliches zu übersetzen, aber ich meine, dass es wohl einen Versuch wert wäre, systematischen Dialog mindestens zu üben, um irgendwann, sofern es geschieht dass es sich ergibt, vielleicht auf die notwendigen Erkenntnisse zu kommen.