Ausschweifungen des Materialismus

Schaut man, wie duldsam, akzeptierend und zuvorkommend viele spiritualistisch veranlagte Menschen sich gegen die Ausdehnung des Materialismus auf fast alle Gebiete verhalten, muss man die Frage stellen, ob man denn nie etwas Echtes bewirken will. Will man denn immer nur in der geistigen Welt Wirkung tun? Es reicht nicht, etwas zu wollen, ohne entsprechend zu handeln, denn abstraktes Wollen bewirkt nichts in der Wirklichkeit. Und die geistige Welt ist nicht die Wirklichkeit, die sich als Realität zeigt, jedenfalls nicht die, die für den Menschen auf der Erde zählt. Man muss sich gegen das über alle Masse hinaus Übertreibende erheben, und, nach einiger guter Überlegung, das Wort ergreifen. Und man muss die grossen Denker der Gegenwart, die etwas bewirken könnten, wenn sie sich nicht so sehr vor den Gift speienden Materialisten fürchten würden, herauslocken, sie etwas provozieren, damit sie sich zuerst gegen sanfte, dann immer härtere Kritik zu verteidigen lernen.

Wie die alten Griechen in ihrem ausschweifenden Spiritualismus durch den idealistischen Platonismus und den realistischen Aristotelismus gezügelt wurden, so kann man nun versuchen, den Materialismus der Gegenwart mit vergleichbaren Mitteln zu zügeln. Der Spiritualismus hat etwas mehr Vergleichbarkeit mit dem Idealismus als mit dem Realismus, und so machte es damals vielleicht Sinn, den Spiritualismus erst mit dem Idealismus zu beantworten. So versuchen wir gegen den – aus dem Gleichgewicht mit den anderen WA ausgebrochenen – Materialismus zuerst den Realismus zu verwenden, und diesem folgend dann den Idealismus. Es geht nicht darum, den Materialismus zu bekämpfen, sondern mit jenen WA zu antworten, auf deren Gebiet er den grössten Spagat übt (mit dem meisten Zwang sein Dogma zum Funktionieren bringen will).

Diese Webseite wird geschrieben von einem, der sich in platonischem Denken zuhause fühlt (und mit den allerwenigsten Platointerpretationen einverstanden ist), und dadurch wird sich hier nicht alles von den WA abgedeckt finden, das wohl abgedeckt werden sollte, eine gewisse Einseitigkeit zugunsten des Idealismus wird bei mir leider wohl immer da sein. Mein Lehrer Pierre Alizé hingegen ist mit seinem feinen Sinn für das Reale eher ein Aristoteliker, so findet sich bei ihm eine Spezialisierung für das Eine (Reale), und eine gewisse Schwäche für das Andere (Ideale). Als Mensch ist man nun einmal nicht ganz abgerundet. Solange man sich mit der eigenen WA auf jenen Gebieten äussert, die selbige betreffen, und bei anderen etwas vorsichtiger ist, kann man sich getrost von anderen Menschen ergänzen lassen. Wo Alizé nicht hinreicht, können dann Platoniker, sich als solche sehende oder wirkliche, versuchen hinzureichen.

Der Nachbar ist die erste Grenze

Man könnte den sich in fremden ‘Häusern’ breit machende Materialismus z.B. als erstes mit dem Sensualismus etwas zurück drängen. Denn dem strengsten Materialismus wird der einfachste Sensualismus eigentlich schon widerstreben. Der Sensualismus sagt nämlich, dass es mit den Sinnen etwas gibt, das eine Stufe über dem absolut Toten, der Materie, liegt. Und der Materialismus muss dies anerkennen, denn die Wahrnehmung über die Sinne kann er nicht abstreiten, da sie existiert, und dies jeden Moment des wachen Lebens selber Beweis ist. Was der strenge Materialismus jedoch abstreiten kann, ist die Wahrheit der Sinnesinformation. Er kann sagen: durch die natürliche Selektion gab es bestimmte Information, welche ein Vorteil war gegen andere Information, und wir nehmen lediglich jenen Teil der Materie wahr, der nützlich ist, nicht aber alles, woraus Materie tatsächlich besteht. So kann der Materialist z.B. gegen den vom Materialismus verschiedenen Sensualismus argumentieren. 

Jedoch kann er das nicht wirklich sagen. Denn es würde auch all jenes einbeziehen können, das z.B. die geistige Welt betrifft. Wenn die Sinne nicht Wahrheit wiedergäben, sondern nur einen nützlichen Teil davon, so wären die Sinne nicht nur für Materie unvollständig, sondern wohl auch für anderes, wie Ätherkräfte, Triebkräfte usw. Deswegen gesteht der Materialist den fünf Sinnen Wahrheit eher noch ein, da er mit diesem Eingeständnis näher an seinem Materialismus dran ist, als ohne es. Der Sensualismus muss dadurch eigentlich als etwas ‘Wahrheit Wiedergebendes’ angenommen werden.

Der Nachbar des Nachbarn ist die zweite Grenze

Nun gehen wir in unserem Argument einen Schritt weiter, und nehmen die Phänomene hinzu. 

Wenn also die Sinne Wahrheit wiedergeben, so haben wir dann Erscheinungen vor uns, welche wahr sind. Nehmen wir z.B. einen Sonnenuntergang, als Beispiel einer Erscheinung. Betrachten wir einen Sonnenuntergang, so kommen in uns gewisse Gefühle auf. Vielleicht steht man mit salzigen Haaren und sandigen Badehosen in ein Badetuch umwickelt an einem Meeresstrand, die Umgebung ist bereits in der Dämmerung versunken, so auch das nun fast schwarze Meer, mit seinem fortwährenden, ruhigen, brausenden Wellengang. Es ist ein bestimmtes Gefühl, das in einem aufkommt, und jeder Mensch kann es erleben. Man kann es ein Klischee nennen, aber man nennt es nur ein Klischee, weil es eben immer wieder, fast universell, vorkommt. Dieses bestimmte Gefühl, das man hat, wenn man zusammen mit anderen da beobachtet, wie diese gewaltige goldene Kugel langsam vom Meer, oder vom Hügel, oder was auch immer, unter einem rötlich eingefärbten Himmel, verschluckt wird, dieses Gefühl hat etwas Archaisches, das wohl ein jeder nachvollziehen kann. 

Auch hier gilt die Frage: ist es wahr, oder ist es etwas anderes, z.B. etwas Nützliches? Ist es nützlich, so wäre es wohl nützlich aus sozialen Gründen, welche auch immer das sein mögen. Haben wir das Erlebnis, so haben wir mehr, als nur einen einfachen Körpersinn, wir haben etwas, das sich wie eine Kombination aus Sinnen zusammen setzt. Da ist vielleicht noch etwas, das, in materialistischer Sprache, in unsere Gene eingeschrieben ist, das all unsere Vorfahren erlebten, und etwas damit verbanden, das auch wir Menschen der Gegenwart, trotz unserem alles überschreibenden Verstandesdenken, trotz all dieser Klugheit, noch immer nachvollziehen können. 

Hier kann der Materialismus nun argumentieren: dass die Sinne Wahrheit wiedergeben ist ja noch eines, aber welche Bedeutung soll eine Wahrheit von Phänomenen haben? Das ist nicht Wahrheit, das ist Subjektivität, und etwas, das lediglich ein bisschen feiner, zierlicher ausgeartet ist, als tierische Instinkte. Es ist der Grund, warum wir Musik hören, Drogen nehmen, Extremsport machen. Das ist nicht Wahrheit, es sind die Instinkte eines etwas grösseren Gehirns. So kann aus dem Materialismus in kraftvoller Weise gegen den Phänomenalismus argumentiert werden. 

Aber auch hier ist es nicht wirklich im Sinne des Materialismus, diese vom Materialismus verschiedene WA, den Phänomenalismus nun, einfach so zu verwerfen. Man kann hier zwar nicht mehr in der gleichen Weise von einem Ungültigen zu einem weniger gewollten Ungültigen auf einen etwas faulen Kompromiss schliessen, dennoch ändert das Vorhandensein, oder Unvorhandensein, von Instinkten nichts an den Phänomenen. Ob die Empfindung wahr ist oder nicht, ist die Frage, nicht wovon man sie ableiten kann. Geschieht mit dem Phänomen da draussen etwas, das eine Reaktion im Menschen begründet, oder hat man nur Gehirnchemie, die anhand der Vorgaben der Gene irgendwelcher Programmierung folgt? Ob die Empfindung vollständig ist, das heisst, ob sie wirklich dem Phänomen vor einem entspricht, oder nur nach den Gesetzen evolutionärer Gehirnwindungen sich einem als ein (nützlicher) Ausschnitt des Wirklichen zeigt, wäre wieder im gleichen Takt des vorigen Arguments, das gegen den Sensualismus gewendet wurde. Und im gleichen Takt ist dann auch die Antwort: ist das Phänomen nicht wahr, so kann es in beide Richtungen mehr geben, und es ist, auch hier, nichts bewiesen noch widerlegt. Ist das Phänomen aber doch ein Ausdruck von Wahrheit, so soll das gelten und wir gehen nun weiter zum Realismus. 

Weitere Nachbarschaften

Viel weiter als bis zum Realismus werden wir in dieser Argumentationsfolge jedoch nicht gehen können, denn ab da gehen die WA zu sehr ineinander über, und sie sind zu durchlässig, um noch effektiv gegen die Härte des Materialismus zu argumentieren. 

Beim Realismus haben wir nun eine WA, welcher neben der Natur alles Tätige, alles Geschaffene, alles Kommunizierende Ausdruck von Wahrheit ist. Wahr ist im Realismus nicht nur die Physis eines Gegenstandes, sondern auch der Zweck dahinter. Und mit der Wahrheit des Zwecks ist nicht nur die Begründung der Physis des Gegenstandes gemeint, sondern tatsächlich das Sein des Gegenstandes. Der Gegenstand ist gleichsam die Physis, wie auch der Nutzen. Sein Sein ist beim Realismus also zweierlei, nicht nur Physis, und mehr als nur eine Idee vom Zweck, er ist Anwendung, etwas die Welt Formendes, sich auch Wandelndes.

Es ist dem Materialismus nicht so einfach, sich der Sicht des Realismus zu erwehren, obwohl er eigentlich weiter vom Materialismus entfernt ist, als die beiden vorangehenden. Der Materialismus hat den grösseren Streit mit seinen nächsten Nachbarn, alles weiter Entfernte vermeint er immer weniger ernst nehmen zu müssen. Der Realismus ist der schmerzlose(ste) Weg, um den Materialismus zur Besinnung kommen zu lassen, da findet sich weder konkurrierende Nachbarschaft, noch weltverneindende Opposition. Und so muss man hier auch nicht gross über wahr oder unwahr argumentieren. Nur noch das Verständnis zum Realismus aus der Sicht der WA sollte verständlich dargelegt werden. 

Das Dasein des Zwecks eines Gegenstandes, z.B. eines Werkzeugs, lässt sich nicht abstreiten. Ob dieser Zweck etwas ist, das über Materie, Sinnesempfindungen und Erlebnisse hinaus geht, das sich zur Hälfte aus etwas bildet, das sowohl aus der Physis wie auch dem Geistigen entspringt, das ist vielleicht nicht gerade, was man sich im ersten Moment unter dem Zweck eines Gegenstandes fragen mag. Dennoch ist es das, was in den WA unter Realismus verstanden wird: der Realismus ist das Zwischending zwischen toter Materie und lebendigem Geist. Aus dem Grunde ist der Realismus auf dem Schema der dutzend Weltanschauungen zwischen dem Materialismus und dem Spiritualismus platziert, und aus dem Grunde kann er vielleicht einen Ausweg aus dem überbordenden Materialismus bieten.

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